Mein Lehrer, Großmeister K.H.Chu, lehrte mich, das „Innere“, ursprüngliche Taiji von „Äußerem“ Taiji zu unterscheiden. Inneres Taiji (Taijiquan) war im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert die berühmteste Kampfkunst in China. Die Kunst bestand darin, nicht zu kämpfen, sondern den Angreifer abprallen zu lassen, ihn zu entwurzeln. In den Äußeren Kampfkünsten ging es dagegen um Schlagkraft und Reaktionsgeschwindigkeit.
Die Attribute Inneres und Äußeres sind, bezogen auf die Kampfkünste, keine Bewertungen, sondern bezeichnen die Art und Weise, wie die Kraft entwickelt und trainiert wird: Jeder suchte und fand das, was ihm am meisten lag. Kraft zu entwickeln, war allerdings das Kriterium. Sonst war es als Kampfkunst minderwertig. So maßen sich damals Vertreter aller Kampfkünste miteinander, und es gab ca. 400 unterschiedliche Stile, mehrheitlich äußere. Das Taiji zählte zu den inneren Kampfkünsten.
„Taiji Quan ist ein inneres System (der Kampfkunst): Wenn die Bewegungen richtig ausgeführt und die Prinzipien verstanden werden, dann ist dies Taiji Quan. Werden die Bewegungen nicht richtig ausgeführt und die inneren Prinzipien nicht verstanden, dann besteht kein Unterschied zu den äußeren Kampfkünsten, selbst wenn die Bewegungen so aussehen wie Taiji Quan.“
Dong Yingjie (1898-1961), Yang-Stil-Meister der 4. Generation
Man muss also unterscheiden zwischen inneren und äußeren Kampfkunst-Stilen und Innerem und Äußerem Taijiquan.
Der Unterschied: Äußere Kampfkunst...
Die äußeren Stile der Kampfkunst entwickelten Arme und Beine zu tödlichen Waffen, gepaart mit großer Reaktionsgeschwindigkeit: Das Credo heißt „Auge, Faust und Fuß“. Durch Abhärtungsmethoden wurde Stärke entwickelt, die beeindruckende Ausmaße annahm. Der „Tigerklauenstil“ beispielsweise trainierte, mit den bloßen Händen Rindenstücke aus Bäumen zu reißen. Gleiches tat man damals auch erfolgreich mit der Haut des Gegners.
...und Innere Kraft
Die Inneren Kampfkünste zu beschreiben, bedarf mehr Worte: Sie setzten Geist und Atmung so ein, dass der Körper wie ein Ball reagieren konnte, auf den ein harter Gegenstand auftrifft: Der prallt zurück. Die Devise beim Inneren Taiji lautet „Yi, Qi, Jin: Aus der Führung des Geistes entwickeln der entspannte Körper und die Energie Qi die wesentliche innere Kraft Jin“. Willkürliche Muskelanspannung ist zu vermeiden, stattdessen braucht man Spontaneität und Einfühlungsvermögen. Es geht um die richtige Spannung beim Kämpfen – zu hart und angespannt verliert, zu weich bewirkt nichts. Wie beim Wettkampf im Drachensteigen: Auf den mit Harz getränkten Schnüren sind Glasscherben verklebt. Wenn die Leine zu straff wird, kann sie von der gegnerischen Schnur mit einer kleinen Bewegung durchschnitten werden – und der Drache fliegt davon.
Die richtige aufrechte Haltung verbindet Himmel und Erde. Sie wächst von den Füßen zum Kopf und verlängert den physischen Körper zu einer Verbindungslinie vom Erdmittelpunkt zum Polarstern. Diese wird zur Säule, zum welttragenden Pfeiler, im alten China: „Taiji“. Rein menschliche psycho-physische Spannung, aus Affekt und Siegeswillen entstanden, wird unterliegen, weil das Geistige fehlt.
Auch bei dieser Überlegenheit gilt jedoch stets: Taiji als Kampfkunst verletzt nicht, auch wenn sie es könnte. Die Fähigkeit, im Kampf zu bestehen, geht immer damit einher, dass dem Gegner kein Schmerz zugefügt wird. Sonst ist es kein Inneres Taiji mehr, sondern Äußeres – doch dazu weiter unten mehr.
Die Anfänge: Inneres Taiji
Die Geburtsstunde des Taiji lag (wahrscheinlich) am Ende des 18. Jahrhunderts. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhhunderts war Taiji eine Kampfkunst unter anderen, die innerhalb verschiedener Familienclans gepflegt und weiterentwickelt wurden. Außenstehende wurde im Allgemeinen nicht unterrichtet, es sei denn, sie zeigten besondere Begabung, Motivation und Loyalität dem Meister gegenüber. Dann konnten sie als „Meisterschüler“ in die Familie aufgenommen werden, wenn sie die Prüfung bestanden und Geld bezahlten.
Unter den Familien der Meister wurden Söhne und Familienmitglieder ausgetauscht und wechselseitig in die Lehre geschickt. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts grenzten die Familien resp. Stile sich mehr gegeneinander ab: Die Kampfkunst hieß nun TaijiQuan, und die Stile trugen die Namen ihrer Begründer. Als ältester Stil gilt der Chen-Stil. Ging es dem Chen-Stil damals noch die Kunst, den anderen „ohne zu kämpfen“ zu besiegen, hat – so meinte Meister Chu – der heutige Chen-Stil „lost its secret“. Der Gegner geht zu Boden, weil Schmerz ihn dahin zwingt, nicht „like going to bed“, wie er selbst eindrucksvoll demonstrieren kann.
Der Weg zum Äußeren Taiji: der erste Schritt
1911 wurde China Republik und die Meister verloren ihr höfisches Betätigungsfeld, den Unterricht der hohen Beamten und Militärs. Sie sahen sich nach neuen Feldern um und bemühten sich, das nationale chinesische Erbe des Taijiquan allen Interessierten zugänglich zu machen. Zu diesem Zweck vereinheitlichte und vereinfachte Yang Chengfu, 4. Generation Yang-Stil, die Form, ohne sie jedoch ihrer Inneren Qualität zu berauben. Sie war jetzt leichter zu erlernen. Die Meister reisten, unterrichteten und waren im Austausch. So fruchtbar diese Zeit fürs Taiji war, brachte sie doch auch eine Verflachung, denn nach der meist kurzen Anwesenheit eines Meisters an einem Ort übernahm ein Schüler die weitere Verbreitung. Doch immerhin gelang es den inneren Kreisen der Familien zu diesem Zeitpunkt noch, die Geheimnisse des „Inneren“ Taiji weiterhin aktiv zu pflegen und zu bewahren.
Der zweite Schritt...
1949 kam Mao an die Macht. Der kommunistischen Regierung war alles suspekt, was nicht in ihr Weltbild passte. Unglücklicherweise hielt sie die Innere Kraft für Hokuspokus und legte es darauf an, sie aus der Welt zu schaffen. Viele Taiji-Meister emigrierten, auch innerlich, indem sie ihre Fähigkeiten der Inneren Kraft verbargen und nicht mehr öffentlich demonstrierten.
...und wie das Geheimnis verloren ging
Bei den Kampfkünsten wurde mit alten Traditionen gebrochen und das Verbleibende in neue Formen gebracht. 1955 entstand zunächst die kurze „Peking-Form“– ein 5- min-Ablauf auf dem Yang-Stil basierend. Sie sollte der „Masse der Werktätigen“ ein Mittel zum Kraftschöpfen vor der Arbeit verabreichen. Es folgten die 44-er und die 88-er-Formen, deren profane Zahlen nichts mehr mit den bedeutungsvollen Zahlen 80, 81, 108 oder 124 zu tun hatten, die Verbindung mit dem Kosmischen signalisieren. Die Bewegungen wurden nach Erkenntnissen des westlichen Sports verändert. Die innere Essenz war genauso daraus verschwunden wie aus dem „Wushu“ der weltreisenden Showtruppe der 1960-er Jahre, deren Bewegungen wie Kampfkünste aussahen, aber allein auf Wirkung bedacht waren.
In der Zeit der so genannten Kulturrevolution (1966-1976) herrschte Unterdrückung. Die alten Taiji-Meister mussten sich verstecken oder landeten im Gefängnis. Der Wu-Stil-Meister Wang Peisheng verbrachte 17 Jahre dort, offizielle Stellen sprechen heute von „Exil“. Andere emigrierten schon früher, so etwa Yang Chengfus Sohn Yang Shouzhong, ein Meister der Inneren Kraft, der 1949 nach Honkong floh. Andere jedoch bedienten sich bei den Äußeren Kampfkünsten und kreierten so einen Wechselbalg: ein Taiji, das mit Äußerer Kraft arbeitet. Dieses neue, staatlich anerkennte Taiji war mit dem dialektisch-materialistischen Weltbild kompatibel und durch die Kulturrevolution nicht gefährdet.
Nun war das Taiji „gleichgeschaltet“. Der Gegensatz zwischen Innerem und Äußerem Taiji, wie wir ihn heute diskutieren, existierte damals nicht, weil kaum noch jemand wagte, das Innere Taiji zu betreiben.
Das erfuhr mein allererster (deutscher) Taiji-Lehrer der in China Kontakt zu einem Verwandten von Yang Chengfu aufbaute, aber zum Taiji-Lernen immer an dessen Sohn verwiesen wurde. Da der Sohn leider nur das VR-Taiji konnte, war der Ärger des Mannes beträchtlich. Doch zu groß war die Angst, sich mit einer alten Tradition zu zeigen.
Nach Maos Tod schwanden allmählich die Restriktionen, zuerst für das Qigong, das in den 80-er Jahren einen wahren Boom erlebte, und dann auch im Taiji. Dabei spielte der erwähnte Wang Peisheng eine wichtige Rolle. Doch nun fehlte es an alten Meistern. Heute gibt es, nach den Videos auf youtube zu urteilen, wirklich noch kompetente Meister, die sicherlich einen Besuch wert sind. Sie zu organisieren, gelingt allerdings nur schwer. Der Staat kümmert sich nicht sehr darum.
Als eine nicht-staatliche Initiative wurde 2008 im Handelsblatt der Yongquan Studienverein vorgestellt:
Yang Luchan – mit dem Beinamen „Yang, der nicht verliert“ - wurde 1850 in Peking von der chinesischen Kaiserfamilie zum obersten Leibwächter des Kaisers, zum Ausbilder der kaiserlichen Leibgarde und zum Lehrer des Kaisers und der Prinzen berufen.
Sein Sohn Yang Jianhou (1839-1917) lehrte ab 1911 den damals erst siebenjährigen Wang Yongquan (1904-1987). Sein Mitschüler war Yang Chengfu (1883-1936), der Sohn Yang Jianhous. Auf Geheiß des Vaters übernahm Yang Chengfu 1917 die weitere Ausbildung von Wang Yongquan.
Im schier undurchschaubaren Wirrwarr unterschiedlicher Taiji-Linien ist so eine Genealogie wichtig, denn sie verleiht einer Schule Legitimität. Zhu Huaiyuan (1911-1999) lernte ab 1934 von Wang Yongquan, wurde aber erst 1957 dessen persönlicher Schüler. Zhu lehrte Shi Ming (1939-2000), der seinen Stil „Ruyi Taijiquan“ nannte. Ab 1982 lernte Siao Weijia bei Shi Ming. 2006 kamen 160 ehemalige Schüler von Wang Yongquan und ihre Nachkommen zur „Wang Yongquan Gedenkveranstaltung“ in Peking zusammen. Seitdem trifft sich der „Yongquan Studienverein“ regelmäßig.
http://www.mdb-consult.de/assets/Uploads/Archiv/China-Wissen/Xiao%20Weijia.pdf
Einen Überblick über die Zeit bis ca. 2004 findet man unter http://www.ycgf.org/WPS_Eulogy/WPS_Eulogy.html
Ob das „Einsammeln“ der Tradition der alten Meister auf solcherlei Wegen gelingt, ist fraglich. Der Staat sollte es als seine Aufgabe sehen, das Zerstörte wieder zu „restaurieren“ und das Wiederfinden des Verlorenen zu ermöglichen. Das chinesische Staats-Taiji lohnt die weite Reise derzeit jedenfalls nicht. Es wurde seiner Essenz beraubt.
Vom Inneren zum Äußeren Taiji – oder: Wie die Innere Kraft verlorenging
Zhang Sanfeng (Chang San Feng), der legendäre Begründer des Taijiquan