Die Denktradition, die Taiji am stärksten beeinflusst hat, ist der philosophische Daoismus (der philosophische, wohlgemerkt, nicht der „religiöse“). Im Daoismus, gleichgültig welcher Schule, streben die Anhänger danach, zum Ursprung zurückzukehren. Je nach Quelle wird dies in mehr oder weniger mystizistische Begriffe gegossen, beispielsweise als die Rückkehr zum Einen, die Rückkehr zur Perle oder zum Zustand, bevor es Himmel und Erde gab. Mitunter ist sogar die Rede von der „Erschaffung des kosmischen Embryos“.
Frieder Anders | Die Gehemnisse der chinesischen Meister
In den chinesischen Kampfkünsten wird die Tradition jeder Stilrichtung auf einen möglichst urzeitlichen Gründer zurückgeführt. Die eigene Praxis und die eigene Bedeutung ist umso wichtiger, je berühmter der Ahne ist. Für Taijiquan ist das der legendäre Chang Sanfeng vom Wudang Berg, der im 12. Jahrhundert unserer Zeitrechnung gelebt haben soll. In dessen direkter Nachfolge zu stehen behaupten heute die Taiji-Adepten vom Wudang-Berg, aber wahrscheinlicher ist, dass es sich bei deren Taiji um rekonstruierte Installationen aus den 1970er Jahren handelt, als sich die VR China langsam wieder für die alten Traditionen öffnete. Also eine Art Disney-Park. Und die chinesische Medizin – das Prinzip gilt also nicht nur für Kampfkünste – hat den Gelben Kaiser als ihren mythologischen Gründervater.
Es muss im Jahr 1981 gewesen sein, als mein langjähriger Lehrer, Meister Chu, zum ersten Mal meine Schule in Frankfurt-Nied besuchte. Seit etwa 5 Jahren widmeten meine Schüler und ich uns damals dem Taiji – teilweise in Latzhosen und verhüllt durch lange Haare. Meister Chu verblüffte uns mit einigen Aussagen, die neu für uns waren. Zum Beispiel dass es im Taiji nicht darum gehe, sich treiben zu lassen, sondern gegen die Strömung zu rudern oder zu paddeln. Treiben lassen bedeute Rückschritt. Diese Aussage widersprach gänzlich unserem damaligen Verständnis von Taiji und Daoismus.