Mein Weg zum inneren Taijiquan

16. September 2013 | Frieder Anders | Mein Weg zum inneren Taijiquan

Taiji lernte ich 1973 im Zentrum von Graf Dürckheim im Schwarzwald kennen, als ich mich dort einige Wochen aufhielt, um ZEN zu üben. Zurück in Frankfurt brachte ich mir – es gab keine Lehrer damals – eine Taiji-Form nach einem amerikanischen Lehrbuch von Cheng Manching im Selbststudium bei; es war eine vereinfachte Variante des Yang-Stils. Als ich nach einem Jahr diese Form erlernt hatte, gab ich sie an einen Freund weiter, der sie in New York bei William Chen, einem Schüler von Chen Manching, leicht variiert vertiefte. Als er zurückkam, lernte ich diese Variante von ihm, die ich dann seit 1975 unterrichtete, ab 1980 in eigener Schule. 1978, nach einem Besuch bei Meister William Chen in New York 1977, schrieb ich das erste Lehrbuch in deutscher Sprache (es gab zuvor nur eine Übersetzung eines amerikanischen Autors, E. Maisel). Zuvor hatte ich mich auf die Suche nach weiteren Lehrern gemacht: 1975 in London, wo ich kurz bei Meister Chu lernte, den ich durch eine Annonce fand, 1978 in Taipei, Taiwan, bei Meister Wang Yennien, einem Vertreter einer anderen Richtung des Yang-Stils und Lehrer von Wolfgang Höhn, bei dem ich im Schwarzwald die „Brokat-Übungen“ und später in Frankfurt Teile von dessen „Form“ erlernt hatte. Ich wollte diese nun an der Quelle erleben, um mich zwischen der New Yorker Variante „Chen-Form“ (nicht Chen-Stil!) und „Wang“, aus Taipei, entscheiden zu können, die ich beide übte. In Taiwan traf ich zufällig Meister Chu wieder, der dort aus privaten Gründen war, und er führte mich zu Meister Gan, einem weiteren Schüler von Cheng Manching. Nach 2 Wochen entschied ich mich für Meister Gan und beendete den Unterricht bei Wang Yennien. Anfang 1979 ging ich dann für einige Tage nach London zu Meister Chu und begann meine Ausbildung bei ihm, die 26 Jahre dauerte. Ich erkannte zunächst seine Qualitäten in Taiji nicht völlig und ging im Sommer '79 nochmals nach Taiwan, wo ich neben Meister Gan noch bei Meister Henry Wang lernte, der ebenfalls die Richtung von Cheng Manching, wiewohl wiederum variiert, vertrat. Danach lernte ich ausschließlich bei Meister Chu. Dessen Form löste in meiner Schule bald die Form von William Chen ab. Es ist immer noch die Form, die ich heute unterrichte, differenziert durch die Einbeziehung der Atemtypen. 1988 ernannte mich Meister Chu zu seinem ersten Meisterschüler und 2002 zum ersten europäischen Meister in seiner Traditionslinie des Yang-Familienstils. 2005 trennten sich unsere Wege.

Ich verdanke ihm viel, vor allem den Weg zum Inneren Taiji, den er mir gezeigt hat – im Gegenzug habe ich gerne über Jahre seinen Verband, die ITCCA, in Deutschland und der Schweiz repräsentiert und ihm viele Lehrerschüler zugeführt, die ihm halfen und helfen, sein Taiji in Europa auszubreiten. Nach der Trennung wurde ich frei, den individuellen Atemtyp, den ich durch meine Gesangsausbildung kennengelernt hatte, mit meinen Schülern und Lehrerschülern zu erforschen und das Wesen von innerem Taiji zu verstehen.

Es scheint spitzfindig zu sein, von „innerem“ Taiji zu sprechen, denn jeder Interessierte weiß, dass Taiji zu den „inneren“ Kampfkünsten gehört und deshalb per se eine „innere“ Disziplin ist. Wozu also die Unterscheidung zwischen „innerem“ und „äußerem“ Taiji? Nun, man erlangt nicht automatisch die Fähigkeit der „inneren Kraft“, wenn man Taiji erlernt, welchen Stil auch immer - und innere Kraft ist für mich der Prüfstein für Inneres Taiji. Meister Chen Weiming (1881 - 1958), ein Schriftsteller, im Taiji Schüler und Mitarbeiter von Yang Chengfu (1883 - 1936) und demnach einer meiner „Vorväter“, beschreibt sie so:

„Viele üben heute Taiji, aber es nicht das wahre Taiji. […] Mit wahrem Taiji ist dein Arm wie Eisen, umwickelt mit Baumwolle. Er ist sehr weich und fühlt sich doch schwer an für jemanden, der ihn zu heben versucht. […] Wenn du den Gegner berührst, sind deine Hände weich und leicht, aber er kann sie nicht loswerden. Dein Angriff ist wie eine Kugel, die glatt etwas durchschlägt (gān cuì) – ohne Zuhilfenahme von ‹schwerfälliger Kraft›. Wenn er zehn Fuß weggestoßen wird, fühlt er ein wenig Bewegung, aber keine Kraft. Und er empfindet keinen Schmerz. […] Wenn du (schwerfällige) Kraft einsetzt, kannst du ihn vielleicht bewegen, aber es ist nicht gān cuì. Wenn er versucht, (schwerfällige) Kraft einzusetzen, um dich zu kontrollieren oder dich wegzustoßen, ist es, als wollte er den Wind oder die Schatten fangen. Überall ist Leere […] wahres Taiji ist wirklich wunderbar.“ (Chen Weiming1928) - Es gibt im Chinesischen eine Redewendung, die heißt: 乾 脆 俐 落 gān cuì lì luò, die bedeutet, dass man etwas unkompliziert und direkt, der Situation angemessen, nicht mehr und nicht weniger macht.

Ich selbst würde den Unterschied zwischen äußerem und innerem („wahren“) Taiji so formulieren:

Äußeres Taiji heißt deswegen so, weil es äußere („schwerfällige“) Kraft entwickelt und anwendet. Das Kennzeichen von äußerer Kraft ist, in den Raum eines anderen einzudringen und ihn so, mit kurzfristiger maximaler willkürlicher Muskelanspannung, zu bewegen, zu verletzen oder zu zerstören; die Kraftbewegung findet ihr Ziel im anderen Körper, wo sie „explodieren“ soll. Im Sport ist das die Maxime von „go und stop“: wenn die Bewegung auf ihrem Höhepunkt gestoppt wird, findet die Ablösung des zu werfenden Gegenstandes, z.b. des Speers, statt, auf den die Bewegungsenergie durch das plötzliche Anhalten übertragen wird. Das kennen wir, wenn ein Auto, in dem wir sitzen, plötzlich bremst und wir nach vorn geschleudert werden. Im Inneren Taiji ist der Gegner aber nicht das Ziel der eigenen Kraftbewegung, sondern diese kommt aus dem Unendlichen und führt über den Gegener hinweg, ins Unendliche. Diese Bewegung muss aber konkret im Geist vorgestellt werden, weil sie sonst vage bleibt. Sie beginnt hinter mir, geht durch mich hindurch und hat ein Ziel, das hinter ihm anvisiert werden muss, also durch ihn hindurchgeht . Das Ziel ist zwar sichtbar, aber außerhalb von mir, und auch außerhalb des gegnerischen Körpers - das ist der gravierende Unterschied. Die so initiierten Energiespiralen, die nur ohne willkürliche Muskelanspannung entstehen, ziehen den anderen in sich hinein oder stoßen ihn ab. Er wird also nicht mit höchster Anspannung „angegriffen“ und es wird nicht in ihn eingegriffen, sondern er wird hochgehoben und weggetragen und fühlt deshalb keinen Schmerz. Wird er durch Schmerz bewegt, ist es äußere Kraft - deswegen also „äußeres Taiji“. Statt dessen fühlt der Gegner eine leichte, aber starke - eben innere – Kraft. Das ist die Kraft des „inneren“ Taiji.

In den „klassischen Taiji-Texten“ des 19. Jahrhunderts, einer Zeit der Hochblüte des Taiji, heißt es: „Die kleinste Abweichung führt meilenweit in die Irre“. Das mag abschrecken, mit Innerem Taiji zu beginnen - aber wie selbstverständlich ist es für uns, einen Gebrauchsgegenstand abzulehnen, wenn er minderwertig produziert wird, weil ein einziges Teil fehlerhaft ist? Spielt nicht der Wunsch nach Perfektion eine große Rolle in unserem Leben, die ja nicht in Perfektionismus ausarten muss? Genauso ist es im Taiji, wo das Zusammenspiel von Körper, Geist und Atem genauestens aufeinander abgestimmt sein muss, damit Vitalität und die Innere Kraft entstehen können. Perfektion, die keine Maschine konstruiert, sondern uns zur Erfahrung unseres Lebendigseins führt.

Alle Meister bei denen ich lernte, außer Meister Chu, praktizierten äußeres Taiji, waren also vom richtigen Weg abgewichen bzw. hatten nie begonnen, ihn zu beschreiten. Mit dieser Aussage will ich ihre Arbeit und Lebensleistung nicht diffamieren, sondern lediglich mit den Meistern vergleichen, die nach meiner Einschätzung Inneres Taiji praktizier(t)en, um jeden, der interessiert ist, diesen Weg zu gehen, darauf hin zu weisen, richtig zu wählen. Diese Meister des Inneren Taiji werden in Clips in der Dokumentation auf dieser Seite vorgestellt. Denn aus meiner Sicht suchen alle, die Taiji betreiben, die Innere Kraft, ob es ihnen bewusst ist oder nicht. Gerade diese Suchenden sollten genau hinschauen, wenn Vertreter des Taiji, die über keine Innere Kraft verfügen, so tun, als ob: brennende Kerzen mit auf sie zielenden Bewegungen zum Erlöschen zu bringen, hat so viel mit Innerer Kraft im Taiji zu tun wie künstliche Beatmung mit freier lustvoller Atmung in der Natur. (Vielleicht gibt es paranormale Fähigkeiten, die so etwas vermögen, aber die sind nicht Teil von Taiji.)

Dieser erste Überblick befasste sich mit der Wirkungsweise der Kräfte von Innerem Taiji. Der Weg, der dahin führt, also die Arbeit an sich selber, wird in der nächsten Folge meines Blogs beschrieben.