Taiji spielen

30. April 2014 | Frieder Anders | Taiji spielen

Als ich 1978 das erste Mal in Taiwan war, um dort in Taipei Taiji zu lernen und zu üben, kam einmal im Park ein Chinese auf mich zu und sagte: „You play Taiji very well!“ Das war mir ganz neu, dass man Taiji in China „spielt“. Ich vermute, der Ausdruck "play Taiji" ist abgeleitet aus dem Englischen "play sports", also "Sport (be)treiben", hat also mit dem Wort "spielen" im deutschen Sprachgebrauch nichts zu tun.

Dǎ“ (im 3. Ton) ist das Wort, das man dafür verwendet. Es heißt u.a. schlagen, etwas aktiv machen, durchführen, eben auch ausüben, üben etc. Das Schriftzeichen 打enthält links das Radikal "Hand" 扌, in der ausführlichen Form 手 shǒu, bezeichnet also etwas mit den Händen/Armen zu Machendes. Es wird gebraucht, um sportliche Betätigung zu bezeichnen, oder auch Brett- und Kartenspiele; jeder, der schon mal Chinesen beim Kartenspielen beobachtet hat, weiß, wie enthusiastisch die Karten meist auf den Tisch geschlagen werden. Dǎ hat mehr als 20 Bedeutungsnuancen, die aber alle nichts mit spielen zu tun haben, und 打太极拳 dǎ Tàijíquán heißt so viel wie "Taijiquan üben". Der chinesische Ausdruck "da Taijiquan" hat also keineswegs mit spielen zu tun; weil es aber im Englischen mit „play“ übersetzt wird, landet man mit „spielen“ bei einer irreführenden Übersetzung, die alle anderen Konnotationen von außen vor lässt.

Seit einigen Jahren nun gibt es Taiji-Richtungen in Deutschland, die ihre Praxis als „Spielen“ verstehen; die Mails und Newsletter beginnen mit „Liebe Taiji-Spieler“, natürlich auch „Spielerinnen“, die sich aber durchaus als Vertreter einer Kampfkunst verstehen; was authentisch klingen soll, ist leider nur das Ergebnis dieser Fehlkommunikation in verschiedenen Sprachen.

In meiner Zeit vor Taiji, Anfang der 1970-er, als ich eine Zeitlang Aikido praktizierte, fragte ich meinen Lehrer, was er von den so genannten „Hongkong Eastern“ halte, die damals schwer in Mode waren – ziemlich blutrünstige Schinken mit Schwert und Säbel, die heftig eingesetzt wurden – ob die in ihrer Geisteshaltung vergleichbar wären mit Aikido, das ja auf die Schwertkunst der Samurai zurückgeht. Er antwortete, dass den Filmen die ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Tod bzw. dem Töten fehle.

Analog zum Aikido-Meister und seiner Aussage über die Filme könnte man sagen, dass diesem „spielerischen“ Taiji ebenfalls die Ernsthaftigkeit fehlt, sich mit Tod und Töten, also der eigenen Destruktivität, auseinanderzusetzen. Mit der Bezeichnung „Taiji spielen“ soll offenbar der weiche, defensive Charakter von Taiji betont werden, um den aggressiven Charakter, der ja gemeinhin mit „kämpfen“ verbunden wird, zu vermeiden, aber die Wortwahl „spielen“, auf die das chinesische reduziert wird, ist bezeichnend für die Verkürzung, die dabei mit den Inhalten des Taiji geschieht. Mein Lehrer, Meister Chu, sagte über dieses „äußere Taiji“, es folge zwar den „internal principles“, aber mit „external use“, also mit äußerer Kraft, so dass die Umsetzung der richtigen Prinzipien nicht zur Inneren Kraft führe. Das klingt ziemlich abstrakt – woran kann man denn erkennen, ob es sich um äußere oder die Innere Kraft handelt?

Der „Prüfstein“ ist, ob man die Innere Kraft aus dem Stand heraus, also wenn man selbst und der „Gegner“ stillsteht, einsetzen kann, so dass der andere „entwurzelt“ wird. Da scheiden sich die Geister: „Taiji spielen“ kann das nicht, da braucht es immer eine (Angriffs)-Bewegung des Gegners, die man ins Leere laufen lässt, ihn so ins Straucheln bringt und durch Schubsen oder Ziehen dann aktiv „aus dem Verkehr zieht“ – das ist nicht Entwurzeln. Und eine andere Richtung von Taiji, die beim Einsatz der äußeren Kraft nicht zimperlich ist, benutzt Griffe und Techniken, die den anderen aus dem Gleichgewicht oder zu Boden bringen, weil sie ihm weh tun (und das geht natürlich aus dem Stand): aber die Gelenke werden blockiert und der andere durch Schmerz bezwungen – das ist ebenfalls nicht Entwurzeln. Entwurzeln mit Innerer Kraft hebt den anderen von den Füßen oder bringt ihn zu Boden, ohne dass er Schmerz fühlt und gar nicht versteht, warum ihm das geschieht, denn es gibt keine Härte, gegen die er sich wehren könnte. Da steckt das Dilemma: „Taiji spielen“ will keinen Schmerz zufügen (das war das Ethos der alten Meister), entwickelt aber gar keine Kraft, und die andere Art (die Meister Chu „chinesisches Judo“ nannte) will effektiv kämpfen können (wie die alten Meister), kann das aber nur mit äußerer Kraft. Beide Richtungen sind „äußeres Taiji“.

Innere Kraft entsteht nur durch die Einbeziehung und Transformation der dunklen, eben auch destruktiven Anteile der Persönlichkeit, dem „Schatten“.

„Der Schatten beginnt mit der frühesten Herauslösung eines »Ich« aus dem großen Einheitsbewusstsein, aus dem wir alle kommen. Der Schatten entwickelt sich parallel zum Ego. Was nicht zu unserem sich entwickelnden Ich-Ideal passt – unserem idealisierten Selbstbild, das von der Familie und der Kultur individuell geprägt wird –, das wird zum Schatten. Der Dichter und Autor Robert Bly nennt den Schatten »den langen Sack, den wir hinter uns herziehen«. »Bis Zwanzig verbringen wir unser Leben damit zu entscheiden, welche Teile von uns wir in den Sack stecken«, sagt Bly, »und den Rest unseres Lebens versuchen wir, sie wieder herauszuholen.«“ (aus der Einleitung zu dem schönen Buch von Debbie Ford, „Schattenarbeit“, Goldmann 1999).

„Möchtest du lieber ganz sein oder gut?“ fragte C.G. Jung, der den Begriff „Schatten“ für unsere Ära geprägt hat. Denn der „Schatten“, wenn er angeschaut und verwandelt wird, ist nicht mehr destruktiv, sondern führt zur „Ganzheit“: er erweitert und bereichert den eigenen Geist und die eigene Physis um die Kraft und die Erfahrung der eigenen Destruktivität, die nun beherrschbar ist – was nicht der Fall ist, wenn sie aus dem Selbstbild, das „gut“ sein will, ausgeblendet wird. Ebenso behält Innere Kraft ihr latentes destruktives Potential, das natürlich beim Taiji Üben spielerisch „verwandelt“ eingesetzt, aber nicht verdrängt wird durch eine oberflächlich „spielerische“ Ausrichtung, bei welcher unter der verordneten Sanftheit der „Taiji-Spieler“ weiter der Schatten der Aggressivität schlummert, die nicht ans Licht kommen darf.

 Ich habe in meinen ersten Taiji-Jahren auch dieses „Spielen“ im Sinne von äußerem Taiji praktiziert. Die Quelle, aus der es kam, war das Taiji von Zhèng Mànqīng (Cheng Man-Ch'ing) die es auch heute noch für viele „Taiji-Spieler“ ist. Zhèng Mànqīng (1901-1975) war ein Meister der „Fünf Künste“ (Malerei, Kalligrafie, Heilkunst, Dichtkunst, Kampfkunst), sicherlich eine charismatische Persönlichkeit. Taiji lernte er 4 oder 7 Jahre (die Angaben schwanken) bei Yang Chengfu (1883-1936), dem wir die heute am weitesten verbreitete Fassung des Yang-Stils verdanken; auch die hier gelehrte geht in direkter Linie auf ihn zurück. 1949 ging Zhèng, „The Master of 5 Excellences“, nach Taiwan und begann dort, seine Variante des Yang-Stils zu lehren, die er nicht nur in der Länge, sondern auch um wesentliche Elemente gekürzt hatte. Obwohl sein Taiji, wie ich meine, „äußeres Taiji“ war und keine Innere Kraft entwickelte, sah er sich offenbar als legitimen Sachwalter der Yang-Stil-Tradition, darin unterstützt von seinem amerikanischen Schüler Robert W. Smith (1926-2011), der ihn 1964 in die USA brachte, sein chinesisches Lehrbuch von 1962 übersetzte und dort 1967 publizierte. Nach diesem Lehrbuch brachte ich mir übrigens 1973/74 meine erste Form im Selbststudium bei und praktizierte sie bis 1979, auch von drei verschiedenen Meistern in dieser Zeit unterstützt, bis dann mein 26 -jähriger Weg zum Inneren Taiji bei Meister Chu begann.