Körper Geist und...

01. August 2014 | Frieder Anders | Körper Geist und...

Liest man über Taiji, wird da oft über die „Einheit von Körper und Geist“ geschrieben. Gemeint ist offenbar, dass die langsamen und entspannten Bewegungen bewusst – oder wie es heute heißt: achtsam –ausgeführt werden, so dass man sie wahrnimmt, spürt und sich in sie einfühlt. Dass man also die Erfahrung von Ganzheitlichkeit machen kann und nicht den Körper wie ein Instrument vor sich her oder zu Höchstleistungen antreibt. Das ist sicherlich eine befriedigende Erfahrung, weil Geist und Körper entspannen – sonst würden viele Menschen gar kein Taiji betreiben.

Im Inneren Taiji ist das Zusammenspiel von Geist und Körper aber differenzierter. Hier lautet die Maxime, dass der Geist führt, und Qi und der Körper folgen sollen, und das bedeutet, dass die Taijibewegungen vor ihrer Ausführung bereits in der geistigen Vorstellung vorweggenommen werden sollen. Also nicht bloß Spüren oder sich Einfühlen allein in körperliche Vorgänge oder Abläufe sind gemeint, sondern diese sollen vorweg in einer Art Mentaltraining ausgeführt werden.

Mentales Training ist heute im Sport und in der Musik weit verbreitet. Das Lexikon Trainingslehre hält folgende Definition bereit: „Form der technisch-koordinativen und der taktischen Vervollkommnung durch bewusstes vorstellungsmäßiges Nach- oder beobachtendes Mitvollziehen sportlicher Handlungen. Die Bewegungshandlung wird dabei durch lebhaftes Vorstellen eigener Bewegungsaktivität unter verbaler Steuerung planmäßig wiederholt, ohne dass Teil- oder Gesamtbewegungen äußerlich sichtbar werden.Mit dem Vorstellen verbunden sind bioelektrische Aktivitäten im neuromuskulären System, die denen der entsprechenden Bewegung ähnlich sind.Wichtig ist, dass die  Bewegung in ihren wesentlichen Merkmalen bekannt ist.“

So. Nach dem Carpenter-Effekt  (oder „ideomotorischer“ Effekt, eine andere Bezeichnung für das Mentaltrainig ist „ideomotorischesTraining“) löst die Vorstellung einer Bewegung eine unwillkürliche Innervation aus, bevor willkürliche Muskelkraft zu deren tatsächlichen Ausführung führt. Ok im Sport, sowieso im Leistungssport und bei Instrumentalisten – aber im Taiji?  Genau im Taiji. Ein alter Taiji -Meister drückt es so aus: „Man hat die ‹Vorstellung› von Bewegung und bewegt sich nicht, das ist eben die Tendenz, sich im Voraus zu bewegen, das nennt man ‹innerlich mobilisieren›“. (Hao Yueru, 1877–1935). Entscheidend dafür, ob die Übungen Innere Kraft entwickeln können ist also, die Bewegungen vor ihrer tatsächlichen Ausführung im Geist vorwegzunehmen.

Hier unterscheidet sich nun aber die „innere Vorwegnahme“ der Bewegung im inneren Taiji grundsätzlich von deren Funktion im Sport. Im Sport wird nach der mentalen Aktivität die gesamte Muskulatur, die für die Ausführung der realen Aktion erforderlich ist, eingesetzt – und das ist immer mit willentlicher Muskelanspannung verbunden: kein Hochspringer beispielsweise bewegt seinen Hintern in die Höhe, wenn er seinen Muskeltonus, den er in Ruhe hat, nicht absichtlich erhöht. Die Bewegung im Inneren Taiji hingegen, will sie Innere Kraft entwickeln, muss aber gerade mit diesem „Ruhe-Tonus“ arbeiten bzw. auskommen.

Das bedeutet, dass nach der geistigen Vorwegnahme einer Bewegung anschließend, bei der realen Ausführung, überhaupt keine willentliche Muskelkraft eingesetzt werden darf: sie muss “entspannt“ ausgeführt werden; kein Wille, Kraft auszuüben, darf sie leiten. Trotzdem sind die Bewegungen stark und entwickeln eine erstaunliche Kraft – durch die Aktivierung des bio-elektrischen Kraftfeldes durch den Geist und die optimale Anpassung an die Schwerkraft, was eine Verkettung des Muskelspiels von den Füßen bis in die Fingerspitzen bewirkt, unter Führung der Atemmuskulatur. Dieses Kraftfeld wird durch  den „Geist“, die Vorstellungskraft oder die Intentionalität, chinesisch Yi, „eingeschaltet“ – wie ein Streichholz, dessen Flamme ein Feuer entzündet, das sich potentiell immer weiter ausbreitet. (Nachzulesen und anzuschauen hier auf der Seite unter „Innere Kraft“ link)

Das ist schwer nachzuvollziehen, weil wir alle, wenn es um intendierte Bewegung und Krafteinsatz geht, immer den Muskeltonus erhöhen – zu fern erscheint die Möglichkeit, mit der uns unbewussten Körperspannung allein, die uns aufrecht hält, eine Kraft ausüben zu können. Und so verhält sich, nach meiner Erfahrung, jede/r: immer wird willkürliche Muskelanspannung (was aber meist unabsichtlich gescjieht!) eingesetzt, wenn es um Krafteinsatz geht.

Hier eröffnet das Innere Taiji einen vernunfthaften Zugang zur Einheit von Geist und Körper. Der Funke, der uns bewegt und der die Innere Kraft entstehen lässt, ist die Absicht, etwas zu tun, also die vorgestellte Bewegung,  und die muss dann spontan und ohne den Einsatz von willkürlicher Muskelkraft ausgeführt werden. Dieser „Funke“ des Yi kommt aus dem Bereich, in dem Geist und Körper noch nicht getrennt sind, und weil er spontan wirksam werden darf, ist das Ergebnis so stark und beglückend „‹Vorstellung› [Yi] und Qi, das ist eben das, was die Lebewesen außerhalb der Knochen und innerhalb der Muskeln durchfließt […] so entsteht eine Art von Vergnügen, das man mit erdachten Worten nicht ausdrücken kann.“ (Yang Chengfu, 1883-1936)

Dass das so geht, kann man aber erst durch Übung erfahren und erlernen. Und typisch ist dann ist die Reaktion „Ich hab doch Garnichts gemacht!“ wenn es gelingt, und damit wären wir wieder beim Thema des letzten blogs, bei wuwei, dem „anstrengungslosen Tun“: zu lernen, wie man etwas lassen kann. „Ich hab doch Garnichts gemacht“. Eben. Dem Machenwollen, das immer mit Macht-ausüben und Kontrolle zu tun hat, zumindest zeitweise zu entrinnen, bereitet ein unaussprechliches Vergnügen.