Das Kreuz mit dem Kreuz

03. Dezember 2014 | Frieder Anders | Das Kreuz mit dem Kreuz

Vier von fünf Erwachsenen haben mindestens einmal in ihrem Leben Probleme mit dem Rücken. Laut Statistischem Bundesamt kostet das Kreuz mit dem Kreuz die Volkswirtschaft jedes Jahr rund 20 Milliarden Euro. Übergewicht, monotones Arbeiten, Bewegungsmangel oder psychischer Druck gehören zu den Risikofaktoren, die das Robert-Koch-Institut definiert. So gings mir auch. Vor ca 35 Jahren schoss mich die Hexe des Öfteren an, so dass ich nur am Stock gehen konnte – immerhin, Taiji konnte ich machen, wenn auch nicht so aufrecht wie heute.

In meinem Buch „Das Innere Taijiquan“ von 2011 habe ich mich selbst als Autor eines Kapitel-Mottos eingeschmuggelt: „Die Anpassung an die Schwerkraft ist eines der ungelösten Probleme der

Menschheit, das nur individuell gelöst werden kann“ (dabei aber schamhaft meine Autorschaft verschwiegen). Nun also, jetzt bekenne ich mich zu der Überzeugung, dass der aufrechte Gang eines der ungelösten Rätsel der Menschheit ist – in jeder Hinsicht, sei es bei der historischen Suche nach dem Grund, warum unsere Vorfahren, die ja wahrscheinlich erst mal auf allen vieren gingen, sich aufgerichtet haben und die beiden vorderen Gliedmaßen dann als Greifwerkzeuge benutzten, oder sei es bei der Überlegung, was die gelungene Aufrichtung jedes Einzelnen ausmacht: Wie steht man aufrecht? Die Verbindung von Erde und Himmel, die dadurch realisiert wird, entspricht wahrscheinlich dem spirituellen Bedürfnis des Menschen, die beiden Bereiche, Materie und Geist, an denen er teilhat, in Einklang zu bringen. Nicht zufällig ist der „aufrechte Gang“ auch zur Metapher des freien Geistes geworden, der sich nicht vor Königen und Tyrannen beugt, das Kennzeichen eines Menschen, der „Rückgrat zeigt“, also seine Aufrichtung verwirklicht hat.

Die Suche der Wissenschaftler nach dem vermutlichen Grund des Sich-Erhebens des Menschen vom Vierfüßler zum Zweibeiner ist ebenso widersprüchlich wie spannend: Ist die Aufrichtung genetisch bedingt, oder folgt die genetische Fixierung einschneidenden Veränderungen der Lebensweise, die eine Aufrichtung erforderlich machten? Anders gesagt: War die Aufrichtung zuerst und folgte erst danach das „Fein-Tuning“ des Erbguts? Dass also nicht die Gene in der Evolution führen, sondern dieser folgen, so dass jedem Menschen aufgegeben ist, die Vorgabe des aufrechten Ganges individuell in die optimale Verwirklichung umzusetzen, weil es keine endgültige oder perfekte Aufrichtung gibt?

1942 war eine Ziege ohne Vorderbeine geboren worden. Sie lernte aber trotzdem relativ sicher laufen, und zwar aufrecht. „Anatomische Untersuchungen zeigten, dass sich nicht nur ihre Hinterbeine besonders kräftig entwickelt hatten, sondern selbst die Muskelansätze am Becken in einer für diese Fortbewegungsart geeigneten Weise verändert hatten 1973 beobachtete man in Botswana eine Gruppe von Pavianen, in der mehrere Tiere, wahrscheinlich bedingt durch eine Polio-Epidemie, missgebildete Vorderbeine aufwiesen – und ebenfalls perfekt aufrecht gingen. Ihre gesamte Körperhaltung und Bewegungsabfolge ähnelte dabei wesentlich stärker der Fortbewegungsweise von Menschen als der von gelegentlich aufrecht gehenden Artgenossen.“ (Axel Ziemke, Antroposophie im Dialog, 11/2014).

Wenn ich in einer Taiji-Einführungsstunde die Interessenten bitte, „aufrecht zu stehen“ werfen sich so gut wie alle in die Brust, d.h. spannen die nötigen Muskeln an, um die offenbar erwartete und geforderte Haltung, den Vorbildern folgend, einnehmen zu können. Und dazu wird viel Kraft und Anspannung benötigt; auf die Idee, dass die Aufrichtung ja von allein von den Füßen aufsteigen kann, ohne dass wir uns „gerade halten“ müssen, kommt man nicht von allein. „Wenn wir...das Stehen von allem befreien, was nicht dazugehört, wie etwa männliches oder weibliches Stehen, damenhaftes oder aggressives, sportliches, autoritäres, manierliches, tüchtiges, stolzes, unterwürfiges, kraftvolles und alle die anderen Motivationen übers Kreuz, die wir in Kindheit und Jugend mit so viel Überzeugung pflegen, dass sie richtig und nötig seien, dann bleibt ein Stehen übrig, wie die Struktur des Körpers und des Nervensystem es verlangen und hervorbringen. Es ist ein seltener Stand, aber jeder ist seiner fähig.“ (M. Feldenkrais)

Wenn es eher wahrscheinlich ist, dass die Gene der Evolution folgen, dann können wir uns an der Ziege ohne Vorderbeine und den aufrechten Pavianen ein Beispiel nehmen. Alle Vorgaben, wie der aufrechte Gang und die aufrechte Haltung – „genetisch fixiert“ – sein sollen, können wir vergessen: es sind Vorbilder, die selbst durch Menschen, „ihre Motivationen übers Kreuz“ und ihre Lebensumstände geformt wurden, und die diese zu Normen ernannt haben. Man schaue nur durch die Bücher und Ratgeber, die einem zeigen wollen, aufrecht ginge so. Wenn wir glauben, diese Vorbilder seien das genetisch gesicherte Ergebnis unserer Evolution, dann irren wir: wir müssen die Lebensumstände – siehe Ziege und Pavian – annehmen und erkennen, was sie von unserer Aufrichtung abverlangen und unsere Haltung (zur Welt und zu uns selbst) ständig verändern. Rückenkranken eine Haltung anzutrainieren, die irgendwelchen Vorstellungen von „aufrecht“ folgt, mag den Schmerz vorübergehend lindern, wie auch die lokale Behandlung, bringt aber keine ganzheitliche Heilung.

An welchem Vorbild können wir uns aber orientieren? An uns selbst, als wir kleine Kinder waren und gerade laufen gelernt haben, und wenn wir uns nicht mehr erinnern können, dann müssen wir den Kindern um uns zuschauen und von ihnen lernen. Vielleicht können wir uns nicht mehr erinnern wie wir uns gefühlt haben, als wir so klein waren, aber unser Körper tut es noch und wir müssen ihm dabei helfen, dass er sich wieder danach ausrichten kann. Das meinten die alten chinesischen Weisen und Taiji-Meister, wenn sie davon sprachen, dass der eigene Weg „zurück zum Ursprung“ führen solle; was genau damit gemeint ist, soll mal offen bleiben, aber auf dem Weg dahin können wir das unerschöpfliche energetische Potential unserer Kindheit wiederfinden, in der es so etwas wie  chronische Rückenbeschwerden nicht gab, und auf diesem Weg zurück – der aber bewusst gegangen sein will! – unsere Malaise mit dem Kreuz allmählich lindern und auflösen. Denn daran sind Körper und Geist gleichermaßen beteiligt: nur das Licht der Erkenntnis kann die gestaute Energie auflösen, die uns Schmerz bereitet. In diesem Sinn: helle Weihnachten und ein erkenntnisreiches Neues Jahr!