Glücklich die Momente, in denen einem Dinge und Ereignisse entgegenkommen, seien es Menschen, Gegenstände, Eingebungen. So einen Moment erfuhr ich, als ich das Buch des kanadischen Sinologen E. Slingerland las, das mir John aus der Schweiz empfohlen hatte: „Wie wir mehr erreichen, wenn wir weniger wollen“. Darin legt der Autor seine über 20-jährige Beschäftigung mit der chinesischen Lebensmaxime Wu wei, des „anstrengungslosen Handelns“ dar, auch übersetzt mit „das Nichttun tun“. Und was mich gleich ansprach, waren seine Erläuterungen einiger Geschichten des daoistischen Philosophen Zhuangzi, vor allem der Geschichte vom Koch (oder Metzger) des Fürsten Hu, der diesem darlegt, wie er seine Rinder zerlegt und über Jahre sein Beil (oder sein Messer) scharf erhält, ohne es schärfen zu müssen – weil er nicht hackt oder schneidet, sondern die Klinge sich ihren Weg durch die Zwischenräume des Tierkörpers suchen lässt, eben Wu wei praktiziert. Ich freute mich, weil ich genau diese Geschichte vor ziemlich genau 30 Jahren in meinem Buch „Taiji- Chinas lebendige Weisheit“ als Weg des Taiji interpretierte und fand mich nun vom Autor Slingerland bestätigt, ohne dass bei ihm einmal das Wort „Taiji“ vorkommt.
Slingerland unterscheidet zwischen zwei Systemen, aus denen unser Selbst besteht (und die landläufig als Körper und Geist unterschieden werden): “…einem langsamen, kalten, bewussten Denken und einer schnellen, heißen, unbewussten Reihe körperlicher Instinkte, Gefühle und Fertigkeiten. `Wir` neigen dazu, uns mit dem kalten, langsamen System zu identifizieren, weil es der Sitz unserer bewussten Wahrnehmung und auch unserer Selbstwahrnehmung ist. Unterhalb dieses bewussten Selbsts befindet sich jedoch ein weiteres Selbst – wesentlich größer und kraftvoller –, zu dem wir keinen direkten Zugang haben (…) Das Ziel von Wu wei besteht darin, diese zwei Teile des Selbst zu einer glatten, effektiven Zusammenarbeit zu bewegen. Ist man im Wu wei, so ist der Geist verkörperlicht, und der Körper ist `vergeistigt`. Dadurch sind die beiden Systeme – heiß und kalt, schnell und langsam – vollständig integriert, und es entsteht eine intelligente Spontaneität, die perfekt auf die jeweilige Umgebung eingestellt ist.“ (S. 44)
Eine, wie ich finde, perfekte Beschreibung dessen, was wir durch Inneres Taiji anstreben. Denn den Ausgleich der beiden Modi „kalte und heiße“ Kognition können wir durch Taiji erreichen, und hier speziell durch den Umgang mit dem Atem. Unser Atem ist die einzige organische Funktion, die sowohl willkürlich („kalt“) beeinflusst werden kann und die auch unabhängig von unserem Willen („heiß“) geschieht. Auch wenn wir nicht drauf achten, atmen wir trotzdem weiter– „es atmet uns“. Ich kann willkürlich in meinen Atem eingreifen, mit Atemtechniken, um ihn und den Körper zu haben und zu kontrollieren, oder ich kann ihn sich selbst überlassen und den Körper sein lassen, wie jedes Mal, wenn wir im Schlaf in unser tiefes unbewusstes Selbst eintreten.
Im Taiji mache ich beides: Ich bringe beide Teile des Selbst durch Tun und Nichtun zur Zusammenarbeit. Ich überlasse es dem Atem, wie er auf meine Bewegungen reagiert, versuche also, nicht direkt einzugreifen, sondern nehme ihn bewusst wahr und sein Angebot an, ihn dahin zu führen, wohin er, durch meine Bewegungen veranlasst, sich weiter entfalten möchte. Im Inneren Taiji führe ich also Bewegungen aus, die ihn beeinflussen: Ich tue etwas mit meinem Körper, den ich habe,(„kalt“). Durch die spezielle Art der Bewegungen aber wecke ich die Modalität des Körper-Seins („heiß“): Der Atem wird lebendig, wie von allein, ich tue nichts. Dann greife ich diese organischen Impulse auf, spüre, wohin sie meine Bewegungen verändern wollen und gebe dem nach, ich tue etwas. Dieses Verschränktsein von Haben und Sein, von Tun und Nicht-Tun realisiert eben das, was die Daoisten als Wu wei geschätzt haben: Das Nichttun tun und eine intelligente Spontaneität erlangen, indem man der natürlichen – organischen – Ordnung der Dinge hilft, sich zu entfalten.
“Aus Sicht der frühen chinesischen Denker (…)kulminiert das Wissen nicht darin, eine Reihe abstrakter Prinzipien zu begreifen, sondern darin, in einen Zustand des Wu wei einzutreten. Das Ziel ist die Fähigkeit, sich so durch die physische und soziale Welt zu bewegen, dass man sich völlig spontan verhält und dennoch völlig in Harmonie mit der korrekten Ordnung der Natur und des Menschen (dem Dao oder Weg) befindet.“ (Slingerland, S.23) Und genau das üben wir mit unserem Taiji.