Entspannung

09. November 2014 | Frieder Anders | Entspannung

Zwei Methoden helfen gegen Stress und bauen ihn ab: Entspannung und Bewegung. Taiji verbindet beides.

Seien wir ehrlich: für viele von uns bedeutet „Entspannung“ abends die Couch-Potato-Füße hochlegen, nach der Verausgabung am Tag sich aus der Glotze und aus dem Glas etwas reinziehen („erst mal entspannen, erst mal Picon“ hieß vor Jahren ein Slogan für einen Aperitif). Zu innerer Ruhe kommt man dabei, je nach Programm, aber nicht, weil Körper und Seele durch den so genannten „Carpenter-Effekt“ alles Gesehene hautnah miterleben: alles, was wir  sehen oder uns vorstellen, bewegt uns psychophysisch so, als würden wir es selbst tun.

Richtig abschlaffen dagegen kann man in einer Wellness-Oase und Anwendungen der angenehmen Art über sich ergehen lassen. Ist ja auch nicht verkehrt, mal richtig passiv sein, jetzt hat der Geist auch Ruhe.  Wem das zu lasch ist, sucht Action: sich ordentlich auspowern beim Laufen oder an den Geräten, hier soll Bewegung gegen den Stress helfen. Tut auch gut, ist aber eigentlich nicht entspannend. Also entweder Hamster im Rad, strampeln bis zur Atemlosigkeit oder Hamster im Winterschlaf – keine echte Entspannung, bei  beiden nicht. Wie soll das gehen, Entspannung und Aktivität verbinden?

Es  gibt eine Art von Entspannung, die durch Aktivität erreicht wird. „Entspannung bedeutet nicht Verneinung oder Passivität“, schreibt die amerikanische Autorin Mabel E. Todd in ihrem Buch Der Körper denkt mit (Verlag Hans Huber 2003), „wird sie als solche betrachtet, werden geistige und körperliche Erschlaffung begünstigt.“ Und weiter: „Entspannung ist das Gleichgewicht von Ruhe-und Aktivitätsphasen im Rhythmus des Lebens. Ruhe ist die passive Phase zwischen den aktiven Phasen, wie wir es am Beispiel der Rhythmen von Herz, Zwerchfell oder wechselseitiger Muskelaktion sehen können. Entspannung ist die dabei mögliche Balance, die man im Idealzustand als Wohlgefühl erlebt.“

Mabel E. Todd (1880-1956), deren hier zitiertes Buch 1937 unter dem Titel The Thinking Body erschien, war eine amerikanische Stimm-und Bewegungslehrerin, die sich zeitlebens damit beschäftigte, die Folgen einer Rückenverletzung, die sie als Kind erlitten hatte und die ihre Gehfähigkeit beeinträchtigte, zu verbessern. Sie gilt als Begründerin der Ideokinese, einer „Körperarbeit“, die auf den Pfeilern Anatomie, Vorstellungskraft und bewusster Entspannung, also der Physiologie und Psychologie von Bewegung beruht und oft mit der Arbeit von Moshe Feldenkrais (Bewusstheit durch Bewegung) verglichen wird. Und natürlich Ähnlichkeiten mit dem Inneren Taiji aufweist, weil die Prinzipien die gleichen sind.

Weiter heißt es in dem Buch: „Jeder müde Mensch erhält den Rat, sich zu entspannen, aber es gibt ein großes Missverständnis darüber, was Entspannung im Sinne körperlicher Ruhe wirklich ist. Die Natur gibt uns dafür das Körpergewebe, das sich – wie wir gesehen haben – in einem Rhythmus von Ruhe und Aktivität befindet. Arbeitet ein Teil oder System wird sein Gegenüber automatisch in die Ruhephase des Rhythmus übergehen. Verständnis und Anwendung der Naturgesetze ermöglicht es uns auszuruhen, wenn wir tätig sind. Um zu verstehen, was Entspannung ist, müssen wir diese zwei Phasen des Körperrhythmus gebührend betrachten.“

Ausruhen, wenn wir tätig sind

 Wer den Bewegungs-Stress nicht  möchte, sucht sich ruhigere Bewegung, Yoga oder Taiji. Aber auch im Taiji (oder Taichi) gibt es ein großes Missverständnis darüber, was „Entspannung im Sinne körperlicher Ruhe“ wirklich ist: nämlich die Vorstellung, man müsse sich gaaanz langsam und anstrengungslos bewegen, damit der Organismus sich schön ausruhen, eben entspannen kann. Aber genauso wenig wie Hamsterrad-Treten bringt auch das Runterfahren der körperlichen Aktivität in den Winterschlaf-Modus, bei der die Atemfrequenz möglichst niedrig werden soll, Entspannung, sondern eher Erschlaffung. Es ist die Aktivierung von Ruhe und Aktivität der Körperrhythmen, gekoppelt mit Bewegungen, die den Körper und den Atem trainieren, aber nicht atemlos werden lassen, die wirklich entspannt. Und das ist die Kunst, zu lernen, „auszuruhen, wenn wir tätig sind.“

Im traditionellen Taiji im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert haben die Menschen gewusst, wie sie ausruhen konnten beim tätig sein, und mehr noch, sie haben herausgefunden, dass die Atemrhythmen unterschiedlich sind, dass also, wie es die Lehre von den Atemtypen hierzulande vor ca. 70 Jahren formuliert hat, die aktive Phase entweder das Ein- oder Ausatmen ist. Das bedeutet, wie M. Todd es formuliert, dass, wenn „Ruhe … die passive Phase zwischen den aktiven Phasen“ ist,  man wissen muss, welchedas bei mir ist: Ein- oder ausatmen? Und das ist nämlich keineswegs klar, weil es vom Atemtyp abhängt. Und da wären wir beim Inhalt unserer Arbeit an dieser Akademie: die einen, die so genannten Einatmer, atmen aktiv ein und haben in der passiven Ausatmung ihre Ruhephase, die anderen, die Ausatmer, atmen aktiv aus und müssen die Einatmung passiv geschehen lassen, damit ihr Organismus entspannen kann. Und nicht das Atmen auf Sparflamme, das geschieht ausreichend in der Nacht (wenn wir nicht gerade schlecht träumen).

„Wissenschaft (Wissen schaffen) ist die Erweiterung von Wissen durch Forschung“. (WIKI)

Woher ich das weiß? Aus der Kenntnis der Lehre von den Atemtypen, aus der Lektüre der Schriften der alten chinesischen Meister, die diese Zusammenhänge in den Beschreibungen ihrer Erfahrungen erkennen lassen, auch ohne beide Atemtypen systematisch kategorisiert zu haben. Aber vor allem aus der Erfahrung, meiner eigenen und der meiner Schülerinnen und Schüler. Jeden Tag neu. Ja gut und schön, aber das ist ja rein subjektiv, wo ist der wissenschaftliche Beweis? Also: Körperarbeit, sei es Taiji, Ideokinese oder welche immer, kann in ihren Ergebnissen wissenschaftlich nicht bewiesen werden. Warum stehen wir aufrecht? Die Wissenschaft spricht von der Bodenreaktionskraft, die der Schwerkraft entgegenwirkt – aber das ist eine Erklärung für den aufrechten Gang, nicht ein Beweis dafür. Körperarbeit entspringt der Erfahrung, die manchmal schmerzhaft ist, wie es das Beispiel von Mabel Todd zeigt. Zwar muss die Naturwissenschaft – besser: die Naturgesetze – die Grundlage sein, auf der sie geschieht, aber diese kann nicht alles erklären oder „beweisen“; ohne Erfahrung, die alles  scheinbar „Richtige“ in Frage stellt (oder bestätigt!), gibt es auf diesem Feld, wie in der Wissenschaft auch, keine Entwicklung. Denn „in der Wissenschaft gibt es niemals endgültig gesichertes Wissen. Es gibt einen aktuellen Stand der Forschung, eine mehr oder wenige starke Evidenz für dies oder jenes. Und dann, das ist eben Wissenschaft, kommen neue Fakten, neue Daten, und man muss das zuvor für gesichert gehaltene über Bord werfen. Das heißt nicht, dass Wissenschaft nur Nichtwissen produziert. Es bedeutet lediglich, dass nicht jede Studie, bei der ein paar Mäuse mit Süßstoff gepäppelt wurden, die Gefährlichkeit dieser Substanz beweist.“ (P. Illinger in SZ, 18./19.10.14)

In diesem Sinne werfen wir über Bord: „Entspannen kann ich sowieso nur im Liegen, richtige  sportliche Bewegung muss mich auspowern, die Erde ist eine Scheibe, die Lehre von den Atemtypen ist esoterischer Humbug und ich esse lieber wieder Zucker“ – kurz: „Meine Meinung steht fest, bitte verwirren Sie mich nicht mit Tatsachen“.