„Wenn man sich zu alt für eine Sache fühlt, sollte man sie erst recht probieren.“ (Picasso)
1980 oder 81, beim ersten Seminar mit meinem langjährigen Lehrer Meister K.H.Chu in meiner Schule, die damals in Frankfurt-Nied war, gingen uns Taiji-Adepten, die wir seit einigen Jahren diese Kunst praktizierten, die Augen auf. Hatten wir doch gedacht, Taiji üben bedeute, sich mit dem Strom auf dem Weg des geringsten Widerstandes treiben zu lassen. Aber nun hörten wir, dass es eher darum gehe, stromaufwärts zu rudern, um das zu verwirklichen, was im Englischen „continuous improvement“ heißt, oder lebenslange „Selbstkultivierung“, bei den Chinesen. So wie die Lachse stromaufwärts ziehen, auf ihrem Weg in ihre Laichgründe, um ihr Leben dort zu erfüllen und zu sterben.
Nach dieser Devise und 26 Jahren Lehrzeit bei meinem Lehrer bin ich 36 Jahre (41 Jahre Taiji minus 5 Anfangsjahre „treibenlassen“) stromaufwärts geschwommen, um das Taiji zu erforschen und zu entwirren: ich habe, wie ein Lachs, der nach großen Anstrengungen in den Laichgründen angekommen ist, zuletzt meine Eier abgelegt und müsste jetzt eigentlich den Lachstod sterben und als Nahrung für die Flusskrebse in den ewigen Kreislauf der Natur zurückkehren. So fühlt man sich, wenn man 70 wird, habe ich Ende September dieses Jahres gedacht, muss man sich fühlen, weil es ja jetzt, mit nachlassenden Kräften, nur noch, dem Strom folgend, abwärts, zum großen Meer hin, gehen kann; schließlich wurde die „Altersgrenze“ ja schon seit 5 Jahren überschritten.
Pustekuchen. Die Lachse sterben nicht, weil ihr genetisches Programm es so vorsieht, sondern an Stress. Das beschreibt der Biologe und Hirnforscher Gerald Hüther:
„Ein Göttinger Kollege hat das aber untersucht und festgestellt, die Lachse sterben am Stress. Die kriegen dicke Nebennieren, das Immunsystem bricht zusammen, dann geht es ganz schnell. Der Göttinger Kollege hat einen Versuch gemacht – und das ist das, was für mich interessant ist: Er ist mit einem Hubschrauber, mit einem Bassin an Bord, zur Laichzeit an die Oberläufe der kanadischen Flüsse geflogen, er hat die Lachse nach ihrer Verpaarung mit einer roten Kennung am Schwanz versehen, hat sie in dem Bassin mitgenommen und an den Atlantik geflogen. Nach einem Jahr hat er überprüft, ob er die Lachse wieder findet. Eigentlich dürften sie ja nicht mehr leben, denn ein Lachs stirbt nach der Verpaarung. Aber Sie ahnen, weshalb ich die Geschichte erzähle: Sie waren wieder da. Was war passiert? Ich versuche, es auch gleich in unsere Sprache zu übersetzen: Wenn man wie ein Lachs besessen ist von einer Idee, wie es zu werden hat, dann sieht man überhaupt nicht mehr, was los ist.
Da rasen diese Lachse, besessen von der Idee, sich verpaaren zu müssen, immer flussauf, und irgendwann verwirklichen sie diese Idee. Und erst dann schalten sie das Gehirn ein. Und dann gucken sie um sich und sehen, wo sie gelandet sind, wohin die fixe Idee sie gebracht hat. Sie stellen fest, so flaches Wasser, nichts zu fressen, lauter Lachse und keine Chance, jemals wieder zurück zu kommen. Dann bleibt einem Lachs nichts anderes übrig, als den tapferen Lachstod zu sterben.“
Ich hatte Glück. Die Besessenheit von der Idee, das Innere Taiji bis auf den Grund zu erforschen, führte mich zwar zur Quelle zurück, aber gleichzeitig auch ins offene Meer, durchaus auch mit der Hilfe von Menschen, die mich ein Stück in einem Bassin mitgenommen hatten. Denn Offenheit und Weite sind es, die durch diesen beharrlichen Taiji-Weg gewonnen werden, gerade weil er ein Weg „zurück zum Ursprung“ ist, wie es die Daoisten nennen.
Noch einmal Professor Hüther: „Ich finde, Medizin ist nicht dazu da, für so verbohrte, sterbende Lachse Sterbehilfe zu leisten, sondern Medizin ist dazu da, Lachse – und jetzt höre ich auf mit den Lachsen – Menschen einzuladen, zu ermutigen und zu inspirieren, neue Wege zu suchen, sich nochmal am Leben zu begeistern, gesund werden zu wollen, Vertrauen zu gewinnen in die ärztliche Kunst, innere Haltungen zu verändern. Vielleicht gelingt es uns dann, mit so einem medizinischen System mit viel weniger finanziellem Aufwand viel mehr Menschen die Chance zu geben, ihre Selbstheilungskräfte wieder zu reaktivieren und gesund zu werden“. (Aus: SWR2 Aula vom 04.12.2011 Projekt Gesundheit – wie ändere ich mein Verhalten?)
Ersetzt – oder besser: ergänzt man „ärztliche Kunst“ mit Innerem Taiji, dann bekommt dieser Text hier seine Berechtigung: Taiji kann Menschen einladen, ermutigen und inspirieren, neue Wege zu suchen und sich nochmal am Leben zu begeistern und ihre Selbstheilungskräfte wieder zu reaktivieren – damit niemand verbohrt und besessen den scheinbar unausweichlichen Lachstod stirbt. Und man muss nicht schon jenseits der so genannten „Altersgrenze“ sein, um damit zu beginnen. Vor allem wenn sich dieses Brett vorm Kopf bereits früher breitgemacht hat, und man sich alt fühlt – und da wären wir wieder beim Motto von Picasso, das diesen Blog einleitet.
PS Mir fällt der Titel eines Buches ein, das mir mein Vater einmal in jungen Jahren zum Geburtstag schenkte: „Ich schwöre mir ewige Jugend“ von Johannes Keßler, dem Hofprediger von Wilhelm Zwo, ich glaube, ich hatte es wegen des Autors gar nicht gelesen (weil ich sowieso alle Predigten ablehnte und dann noch eine vom Kaiserhof, vielleicht hole ich das nach, es ist heute für 1 Cent bei Amazon zu haben). Aber der Titel ist gut: wie „Forever Yang“, das wir mal erblödelt hatten auf der Suche nach einem Slogan für das Yang-Stil-Taiji. Und wie das so ist mit Schwüren: sie werden meist gezwungenermaßen geleistet oder in Notsituationen, und die Notsituation, die hier zutrifft, ist die zwanghafte politisch korrekte Auffassung vom genetisch bedingten Lachstod...