Taiji schmecken

03. September 2014 | Frieder Anders | Taiji schmecken

 

„Das höchste Glück ist das, welches unsere Mängel verbessert und unsere Fehler ausgleicht“. (Goethe)

„Der Wein, eine Cuvée aus 40% Garnacha und 40% Syrah, ergänzt durch Cabernet und Merlot, bietet der Nase einen entzückenden Duft von frischen, dornigen schwarzen Früchten, herrlich kombiniert mit Noten zerstoßener Steine und Kalk. Zu Beginn noch etwas fest, entströmen die Aromen nach leichtem Zureden schmeichelnd dem Glas. Am Gaumen voll mit einem knackigen, würzigen Einstieg und einem Hauch von Sezhuan-Pfeffer entwickelt er sich sehr schön Richtung Finale mit Aromen von Lakritze und schwarzem Pfeffer. Tannine sind zweifellos vorhanden, der Wein ist aber schon jetzt ein Vergnügen und wird sein Niveau die nächsten Jahre halten. Trinken Sie ihn 2013-2020+(…)“

Das ist – unschwer zu erkennen – die Beschreibung eines Sommeliers, die wiedergibt, wie ihm bzw. was er alles im Wein geschmeckt hat. Weinpapst Parker möge mir nachsehen, dass ich sie hier benutze, um etwas über das „Schmecken“ von Taiji zu sagen. So abwegig, wie der Vergleich Wein –Taiji erscheinen mag, ist er nämlich nicht, denn in China spricht man davon, Taiji zu „schmecken“:

Die Taiji-Bewegungen müssen integriert, immer als Ganzkörperbewegung, und sehr langsam ausgeführt werden. Man kann sie sich vorstellen als immer feinkörniger gegliederte Abfolge von Bewusstseinsmomenten, die man „schmecken“ muss – Taiji „schmecken“ ~ 品味太极 pǐnwèi tàijí ~ taste, savour Taiji. Jeder dieser Momente muss auch die dunkle Seite enthalten, muss meditative Tiefe haben: 冥想 míngxiǎng. 冥 míng = dunkel, Unterwelt, Hades;  der Sinologe Karlgren erklärt das Schriftzeichen als zusammengesetzt aus den Komponenten für Bedeckung, Sonne, sechs: die sechs Stunden, während deren die Sonne bedeckt und unsichtbar ist. 冥想 míngxiǎng = Meditation, tiefes Denken.   

Verstehen Sie diesen Text? Wissen Sie jetzt mehr über Taiji als vorher? Soviel wie über den Wein? Eben. Hier kommt die Gemeinsamkeit von Taiji und Wein zu Tage: man muss beides selber probieren, denn von der Beschreibung eines anderen hat man nichts; höchstens einen Anreiz, selbst schmecken zu wollen. Oder, wie Mao selig sagte, dass man den Geschmack einer Birne nur erfahren könne, wenn man in sie hineinbeiße.

Ein solches Schmecken erfordert auch der individuelle Atemtyp, wenn man ihn kennenlernen möchte. Viele hören oder lesen darüber und über die Eigenschaften, die entweder dem „Einatmer“ oder dem „Ausatmer“ zugeschrieben werden und denken dann, sie müssten bei sich exakt diese Eigenschaften sofort wiederfinden – also genau das beim Wein schmecken, was die geübte Zunge des Sommeliers herausgeschmeckt und er, durch viel Probieren verfeinert und geübt, formuliert hat. Und wenn sie es nicht schmecken, dann hat er eben unrecht. Und denken gar nicht daran, dass der eigene Geschmack vielleicht nicht ausgebildet ist.

So finde ich im Internet einen Beitrag, wo jemand „streng wissenschaftlich“ den Kriterien, wie sie den Einatmer- und den Ausatmertyp unterscheiden, nachgegangen ist. Empirisch, also in einer Untersuchung, ob und wie diese Eigenschaften sich bei real existierenden Menschen zeigen, oder nicht. Mit dem Ergebnis, dass diese Eigenschaften oder Unterschiede der Atemtypen so nicht aufgefunden werden können: also ist das ganze System obskur und gehört in die esoterische Kiste, zusammen mit anderen verdächtigen Disziplinen aus „Absurdistan“, wie „Horoskope und Wünschelrutengänger“.

http://www.frederikbeyer.de/blog/allgemein/sonne-mond-und-stimme-der-fall-terlusollogie

Diese Untersuchung ist sehr verdienstvoll. Nicht, weil sie mit wissenschaftlichen Methoden ein seltsames System zu widerlegen scheint, sondern weil sie vor allem den Sachverhalt  aufdeckt, dass kaum ein Mensch seinen individuellen Atemtyp bewusst lebt. Der Atemtyp zeigt uns nämlich eine Anlage, die jeder für sich finden und entwickeln kann. Versteht man den Atemtyp aber als fertig ausgebildete oder entwickelte Eigenschaften, läuft man in die Irre.

In meiner Unterrichtspraxis begegne ich fast nur Menschen, die ihren Atemtyp „überformt“ haben, durch welche Umstände und durch welchen Gebrauch des eigenen Körpers auch immer. Jede/r kann ja alles machen, geprägt von  Einflüssen und Überzeugungen, denen sie/er sich verschrieben hat, denn in der  Vielfalt der Möglichkeiten, in seinem Atem zu leben (oder auch nicht), irren die meisten umher ohne Orientierung bzw. mit den vorgefassten Meinungen, die eben von irgendwoher erworben sind, manchmal tatsächlich aus „Absurdistan“. Aber das Wichtige ist, das zu finden, was einem selbst, in seiner „ureigenen Tiefe“ oder Kraft, entspricht. Und das dann zu pflegen und zu entwickeln, um, nach Goethe, zum „höchsten Glück“ zu gelangen, nämlich, die eigenen Mängel auszugleichen und die Fehler zu verbessern.

Es gibt bereits zahlreiche Menschen, die näher an sich und ihre innere Kraft gekommen sind, weil sie die Hilfe, wie sie die Kenntnis des eigenen Atemtyps vorgibt, angenommen haben, um ihr eigenes Potenzial zu entdecken. Und die nicht gesagt haben, bei mir ist es ganz anders, da kann ja nichts dran sein nach dem Motto: „ Was der Typ da über den Wein labert, kann ich nicht nachvollziehen.“  Wir im Inneren Taiji hier haben  das Glück, über praktische Tests zu verfügen, die die Unterschiede zwischen dem eigenen und dem fremden Atemtyp eindeutig und meist schlagartig deutlich machen. Was für Tests? Hier schweigt er, der Taiji-Sommelier, sagt nur: herkommen und ausprobieren –  wenn auch nicht zur Weinprobe, aber zur „Taiji-Probe“.