„Folge nicht den Fußspuren der Meister,
suche, was sie gesucht haben.“
(Basho, 1644-1694, Samurai und Dichter)
Den Osterhasen gibt es wirklich
In den chinesischen Kampfkünsten wird die Tradition jeder Stilrichtung auf einen möglichst urzeitlichen Gründer zurückgeführt. Die eigene Praxis und die eigene Bedeutung ist umso wichtiger, je berühmter der Ahne ist. Für Taijiquan ist das der legendäre Chang Sanfeng vom Wudang Berg, der im 12. Jahrhundert unserer Zeitrechnung gelebt haben soll. In dessen direkter Nachfolge zu stehen behaupten heute die Taiji-Adepten vom Wudang-Berg, aber wahrscheinlicher ist, dass es sich bei deren Taiji um rekonstruierte Installationen aus den 1970er Jahren handelt, als sich die VR China langsam wieder für die alten Traditionen öffnete. Also eine Art Disney-Park. Und die chinesische Medizin – das Prinzip gilt also nicht nur für Kampfkünste – hat den Gelben Kaiser als ihren mythologischen Gründervater. Wie wenig historische Genauigkeit dabei eine Rolle spielt, sieht man an diesem Beispiel: Yang Chengfu (1883-1936), der bekannteste Meister des Yang-Stils im letzten Jahrhundert, schreibt in einem Buch, er habe von seinem berühmten Großvater Yang Luchan, dem Begründer des Yang-Stils, mündliche Unterweisungen bekommen – fragt sich, wie, verstarb dieser doch bereits 1873.
Die Zugehörigkeit zu einer solcherart fundierten Traditionslinie ist wichtiger als das eigene Können. So gab es vor einigen Jahren juristische Auseinandersetzungen um einen Taiji-Meister namens Yang in den USA, der behauptete oder zumindest den Eindruck erweckte, er gehöre zur berühmten Familie Yang, die das aber gar nicht gern sah, weil es nicht stimmte und sich heftig dagegen wehrte. Da wollte sich doch einer mit fremden Federn schmücken! Einspruch erhoben die Statthalter der Yang-Tradition in China, die zweit-, dritt- und viertältesten Söhne des Yang Chengfu, die als seine Söhne und Schüler automatisch als große Meister gelten – Söhne: stimmt wahrscheinlich, aber Schüler: stimmt nicht, weil sie sechs Jahre und jünger waren, als ihr Vater starb; tatsächlich haben sie von engen Schülern des Vaters gelernt, aber die waren ja nicht so berühmt, als dass sie extra erwähnt werden müssten. Und wie gut sie in ihrer Kunst sind, darf nicht hinterfragt werden. Aber der älteste Sohn des Yang Chengfu, Yang Shouzhong (1910-1985, Lehrer von Meister Chu), der bei seinem Vater intensiv ausgebildet wurde und einer der führenden Meister nach dessen Tod war, wird in der offiziellen Traditionslinie quasi totgeschwiegen. Warum? Weil er 1949 nach Hongkong gegangen und nicht in China geblieben war wie seine jüngeren (Halb-)brüder. Schwarzes Schaf.
Dass jemand zum Meister einer Traditionslinie ernannt wird, sagt also noch nichts über seine Fähigkeiten aus. Es bedeutet lediglich, dass er, wie die Anwärter auf ein Staatsamt in China, außerordentlich fleißig gewesen sein musste und, wie diese dem Kaiser, dem Lehrer treu ergeben. Und dass er die äußeren Formen (und die Etikette) befolgte und beherrschte. Wie weit her es mit der Beherrschung der Inneren Kraft als Taiji Meister war, wurde nicht weiter untersucht das blieb sein Geheimnis, denn in der richtigen Traditionslinie WAR er einfach gut.
Und die „echten“ Meister, die nun über wirkliche Geheimnisse, den Weg zur Inneren Kraft, verfügten? Die hielten sich oft zurück in der Weitergabe derselben, weil sie dieses Wissen nicht aus der Hand geben wollten, um ihre Macht zu wahren. Kürzlich trennte sich ein Meisterschüler und „branch“- Leiter der ITCCA nach 35 Jahren von seinem Lehrer Meister Chu (der auch mein Lehrer für 26 Jahre war und den ich ihm „zugeführt“ hatte), unter äußerst unschönen Begleiterscheinungen; der Meister konnte ihn nicht gehen lassen. Auf einmal war auch alles, was er gelernt hatte, nichts mehr wert, und nach Auskunft dieses ehemaligen Schülers hätte auch ich, so Meister Chu, „nicht alles gelernt“, als ich mich 2005 von ihm trennte, also längst nicht alle Geheimnisse von ihm bekommen. Das stimmt sicherlich, aber ich bin inzwischen den Weg selbst weitergegangen, und habe, wie ich glaube, im Sinn der Tradition, mein Taiji weiterentwickelt. Anzunehmen, dass nur die Gnade des Meisters es dem (abhängigen) Schüler ermöglicht, auf seinem Weg weiterzukommen und ihm keine eigene Entwicklung zuzugestehen – das ist die Kehrseite der Tradition der chinesischen Kampfkünste. Das hängt natürlich mit der Einstellung zu den Ahnen und zum Vater zusammen: in China musste man, „politisch korrekt“, den Alten folgen, im Westen ist der symbolische „Vatermord“, seit Ödipus, eine Voraussetzung für die eigene Individuation. Aber auch in China haben kreative Schüler das erlernte Taiji weiter entwickelt und ihren eigenen erfolgreichen Stil daraus geformt: auch ein „Vatermord“, der aber meistens mit der Entfernung aus der Traditionslinie geahndet wurde.
Und der Osterhase und seine Eier? Wird traditionell östlich gedacht, wartet man sein Leben lang auf die Geheimnisse des Meisters wie auf den Osterhasen, der die Eier bringt. Auf dem westlichen Weg erschließen sich die Geheimnisse wie von selbst, aber erst, wenn wir die überlieferten Traditionen erforscht haben: Schließlich legen wir die Eier nicht selbst, aber zu Ostereiern malen wir sie ganz allein an. Das heißt, wir müssen etwas Kreatives gestalten aus den überlieferten Traditionen, sie entdecken und sie uns aneignen, nicht bloß ein Leben lang brav imitieren und am Meister kleben bleiben. Erst, wenn man eine Zeitlang den Fußspuren der Meister gefolgt ist, kann man daran gehen, das zu suchen, was sie gesucht haben: Die Kunst, Überliefertes anzunehmen und für sich neu wieder zu entdecken, ja zu erschaffen, und nichts Vorgefertigtes einfach zu schlucken und immer wiederzukäuen.