Endlich Urlaub! Endlich aus dem Alltagsbetrieb rauskommen und abschalten, die Hektik ablösen durch das süße Nichtstun, mit Dolce far niente, dem Motto aus dem Land, wo man als nördlicher Nachbar immer schon seinen Urlaub verbringen wollte. Der Wunsch, alle Viere von sich zu strecken, ist groß, weil man sie, die Gliedmaßen, das ganze Jahr über auf Trab hält, um Schritt zu halten, um seinen Alltag optimal zu meistern.
Der Bruch oder die Grenze zwischen Aktivität und Ruhe ist scharf gezogen in unserer Kultur. Das Bild des unermüdlichen Machers, rastlos Tätigen, der sich eigentlich gar nicht zu erholen braucht, ist ihr Leitbild. Das ist kein Zufall, denn unsere Kultur ist zielgerichtet: seien es materielle Ziele, Lebensziele wie die Rente oder gar das Leben nach dem Tod, wo man im Gefilde der Seligen endlich zur Ruhe kommen möchte. Und weil man sich im Streben nach der ersehnten Ruhe so abmüht, gibt es Schlafmittel, Wellness und eben Urlaub, damit die Überforderung keinen Strich durch die Rechnung macht. So weit, so absurd.
Doch es geht auch anders. Mit Taiji. Im Taiji streckt man alle Viere von sich, allerdings nicht im Liegen, sondern im Stehen, in Bewegung. Zwischen den Bewegungen gibt es Pausen, um die nächste Bewegung vorzubereiten. Bewegung und Pause gehören untrennbar zusammen und bilden sozusagen die Einheit von Tun und Sein. Was heißt das?
Schaut man Leuten beim Taiji zu, z.B. auf youtube, kann man oft beobachten, dass sie sich zwar langsam und fließend, mithin auch entspannt bewegen – aber ohne sichtbare Ruhepunkte. Ununterbrochen strömen die Bewegungen dahin, wie ein großer Fluss (mit denen sie traditionell auch verglichen werden). Das ist richtig, weil die ganze Form ohne Pause dahinfließen soll. Nichtsdestotrotz gibt es ständig Zäsuren darin, in denen körperlich nichts geschieht außer dass die Bewegung ganz kurz zur Ruhe kommt und zum Boden hin sinkt. Die Bewegung des Körpers gelangt an ein Ziel (die jeweilige Bewegungsform, die Figur oder das Bild), aber die geistige Bewegung muss weitergehen und darf nicht abreißen. So sagt es Yang Cheng-Fu, Chinas bekanntester Meister in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Nur so entfaltet das Taiji seine Wirkung, den polaren Rhythmus des Organismus zu stärken und aufzubauen, in dem Atem und Blut pulsieren. Ja, sie pulsieren und rattern nicht durch die Körper-Maschine, angetrieben durch einen Homunkulus im Gehirn, den der englische Philosoph Gilbert Ryle (1900 - 1976) als Gespenst in der Maschine bezeichnete.
Pulsieren, in regelmäßigen Abständen an- und abschwellen, ist durch die Pause zwischen den Phasen gekennzeichnet. Beispiele sind die Atempausen und die Pausen zwischen den Herzschlägen. Wenn die Pausen fehlen, verschwindet der Rhythmus. Stress und Hektik übernehmen. Zum Bild des großen Stroms im Taiji gehört also unbedingt noch das Bild der Meereswellen, wie sie an den Strand rollen: zwischen ihnen Pausen, die einen so beruhigen, wenn man aufs Meer schaut, und die einen flüchten lassen, wenn sie bei der Sturmflut untgergehen.
So gesehen ist das Taiji ohne Pausen hektisch und nicht wirklich entspannend, sozusagen Hektik in Zeitlupe, die nur sedierend wirken kann, aber nicht vitalisierend, weil der natürliche biologische Puls nicht beachtet wird. (Nebenbei bemerkt können so geübte Taiji-Bewegungen später nie wirklich schnell, in der Kampfkunst, ausgeführt werden, die rhythmisch pulsierenden dagegen schon.)
Es gibt eine Auffassung, nach welcher das Taiji aus dem langen Stillstehen in bestimmten Positionen entstanden sei, die langsam ineinander überführt wurden, um den Energiefluss, der durch das meditative Stehen entstand, nicht zu unterbrechen. Diese Vorstellung finde ich hilfreich, weil sie davor bewahrt, im konturlosen Dahinfließen die Erlösung vom hektischen Alltag zu suchen. Es fehlt, was das Meer uns lehren kann: dass alle Bewegung Rhythmus ist. Nur so können wir lernen, die Kluft zwischen Alltagshektik und Nichtstun zu verringern.
Diese Erkenntnis wurde mir im Lauf der Jahrzehnte zur praktischen Gewissheit. Der Weg dahin war kurvenreich und steinig. Doch ein Text von 1985 zeigt, dass das Ziel damals schon zu erahnen war. Es ist der Beitrag im Buch „Taiji-Chinas lebendige Weisheit“. (Der Text bezieht sich auf die erste Vertiefungsstufe, die Yin-Yang-Form, die den praktischen Weg zum Erspüren des „Taiji-Pulsierens“ darstellt).
„Taichi kommt aus der Stille, daher ist der Anfang der Form yin. Diese yin-Phase wandelt sich in eine yang-Phase, yang wieder in yin, und so fließt es durch die ganze Form, bis man am Ende wieder zum Ausgang yin zurückkehrt. In der yin-yang-Form wird das Heben und Senken der Arme (in der Anfangsbewegung) anders erlebt. Die Aufmerksamkeit liegt nicht mehr im äußeren Ablauf, sondern gibt der Bewegung ein Ziel vor. Beginnt man die Arme zu heben, ist bereits der Punkt avisiert, bis zu dem sie steigen dürfen, nämlich bis zur Schulterhöhe (äußerstes yang); wenn sie wieder zu sinken beginnen, ist das Bewusstsein schon an dem Ort, an dem diese Bewegung endet (äußerstes yin). Der „Vorsprung“ des Geistes vor dem Körper wird gleichsam größer, darf aber die Verbindung mit dem Körper nicht verlieren. Die von Objekt zu Objekt kriechende Schildkröte – der Geist, der beim Lernen der Form die Bewegungen schrittweise erfasst hatte – verwandelt sich allmählich in den Adler, der in der Luft die Strecken übersieht, die er zurücklegen will – der Geist erkennt Form und Struktur der Bewegungen. Das Bewusstsein erweitert sich, und Wille und Entschlusskraft entwickeln sich, bleiben aber ihrer Basis, der Erde, verbunden.“
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine schöne Urlaubszeit. Denken Sie dran, Bewegung und Pause bilden eine pulsierende Einheit...