Wie jedes Jahr erleben wir in der Vorweihnachtszeit das Anwachsen der festlichen Hektik und zugleich das Anwachsen ihrer Begleiterscheinungen: Schmus, Kitsch und Sentimentalität. Beides veranstalten wir nur oder nehmen es auf uns, um das „Fest der Liebe“ angemessen feiern zu können. Eine widersprüchliche Liebe, die (mindestens in Form von Konsumorientierung, Erwartungsdruck, Unaufrichtigkeit) zugleich auch Nicht-Liebe im Schlepptau hat.
Eine erste widersprüchliche Begegnung mit Liebe hatte ich, als ich, bevor ich Taiji kennenlernte, für kurze Zeit Aikido betrieben habe. Da hieß es, man solle „in Liebe“ angreifen. Ich hatte nicht verstanden, wie das gehen kann: Wenn ich auf jemanden losstürme, um ihn umzuhauen – wo ist da die Liebe? Im weichgespülten Angriff, der nur so tut, als wäre er aggressiv? Kann es darum gehen, im Namen der Liebe die eigenen destruktiven Impulse zu unterdrücken?
Die Grundfrage ist: Sind destruktive Impulse, sind Angriff und Aggression mit Liebe vereinbar? Wie gehen wir mit dem Hass um, der hinter den destruktiven Impulsen steckt, die wir alle in uns tragen? Kann man Zugang zu diesen Impulsen zu bekommen? Können diese transformiert werden? So, dass durch das Annehmen des Hasses ein Grund entsteht, aus dem Liebe erwachsen kann? Aber wenn, dann bitte wahrhaftig und nicht so, dass er – notdürftig durch Liebe zugedeckt – letztlich als Zeitbombe verdrängt weiterhin in uns schlummert. Wenn all diese Fragen beantwortet sind, bleibt noch eine: Kann uns Taiji dabei helfen?
Im Christentum, so wie ich es (vielleicht falsch) verstehe, sind die bösen Absichten, die anderen schaden könnten, tabu. Auf evangelisch lautet der Zusatz: Wehe, jemand verspürt diese Absichten in sich, dann müssen Schuldgefühle mobilisiert werden, um sie niederzuhalten. Buße tun bedeutet hier nicht, echte Reue über etwas zu empfinden, was man einem anderen angetan hat, sondern Selbstbestrafung für eigene verbotene Gefühle.
Im Judentum dagegen (von dem ich auch nicht viel verstehe), ist es offenbar anders: Man darf alles wünschen und denken, muss sich aber entscheiden, ob man es ausführt oder nicht. In dieser Entscheidungsfreiheit sieht der der jüdisch-amerikanische Physiologe Benjamin Libet (1916-2007) nicht nur die Begründung des freien menschlichen Willens, sondern auch einen Weg, der Verdrängung tabuisierter Impulse zu entgehen.
In den so genannten „Libet-Experimenten“, die er Anfang der 1980er Jahre durchführte, ging es um Versuche zur
Messung der zeitlichen Abfolge bewusster Handlungsentscheidungen und ihrer motorischen Umsetzung. Dieser löste eine kontroverse Diskussion über mögliche Schlussfolgerungen über die Freiheit des menschlichen Willens aus. Libet selbst war ein Verfechter des freien Willens, dem er jedoch nur eine Vetofunktion zubilligte. Darunter verstand er die Möglichkeit, aufgrund moralischer Erwägungen unbewusst aufkommende Handlungsimpulse zu unterdrücken. (Wikipedia).
Unterdrücken ja – aber eben erst, nachdem man sie wahrgenommen hat. Das ist etwas anderes, als sie zu verdrängen. Ob das Judentum hiermit dem Christentum einen Schritt voraus ist? Bilden Sie sich selbst ein Urteil, ich vermag es nicht.
Doch nun zur Kampfkunst. Alle Kampfkunst-Stile versuchen, die Destruktivität zu transformieren. Asiatische harte Kampfkünste setzen eine moralische Grenze, indem sie den Körperkontakt verbieten (außer da, wo es ausdrücklich erlaubt wird im „Vollkontakt“). Westliches Boxen hat die Moral in die gepolsterten Handschuhe geschoben, die dem Kämpfer erlauben, seine Destruktivität auszuleben. Mit Handschuh ist es schwierig, jemanden totzuschlagen, also feste drauf. Auch auf die Moral.
Auch Taiji ist ein Feld, um die eigene Destruktivität zu entdecken und zu verändern, aber eben anders als die angeführten Beispiele. Wie das? Als „weiche Kampfkunst“? Indem wir einen Raum betreten, über dessen Tür groß das Wort „Liebe“ steht und wir alle „bösen“ Impulse draußen an der Garderobe abgeben? Nein. Vielmehr können wir uns in den Energie-Tests und den Partnerübungen aufeinander einlassen und erkennen, wie groß unser Abwehr-Potential ist, das uns den anderen, die andere vom Leibe halten soll. Abwehr ist normal, wer will schon Gewalt erleiden? Doch spüren wir die eigene Kraft, mit der wir uns wehren können, so ist diese bei fast allen Hass-erfüllt, weil sie gewaltbereit ist, das heißt: potentiell jemand anderen zerstören könnte.
Natürlich wird niemand zugeben, Hass auf einen Übungspartner zu empfinden oder ihn absichtlich vernichten zu wollen. Und das ist sicherlich in den allermeisten Fällen auch wahr. Aber die Anspannung, die im Körper steckt und mobilisiert wird, wenn es darum geht, die Standfestigkeit des Partners zu prüfen, kommt aus der tiefen Quelle in uns, der Quelle unseres Selbst. In ihr sind auch Aggressivität, die zum Leben gehört, und Destruktivität, die zerstören möchte. Sie liegen dicht beieinander, man könnte sagen, Destruktivität ist eine entartete Aggressivität. Das ist fast niemand bewusst. Wie könnte es auch, wo wir doch in einer Zeit aufgewachsen sind, in der die Destruktivität verdrängt wird.
Gegen dieses Verdrängen gibt es Taiji (jedenfalls in der Form, wie es bei uns praktiziert wird): Um zu erfahren, dass wir dieses Potential an destruktiver Energie haben, wenn wir einen anderen Menschen angespannt von uns fernhalten. Auf das Erfahren folgt ein weiterer wichtiger Schritt, nämlich zu lernen, dass es auch anders geht als mit einer Kraft, die sich aus der Verdrängung speist: sich abzugrenzen mit der Lebenskraft, die in uns ist und die wir nur zu lenken und einzusetzen brauchen. Und Lebenskraft, die nur „sie selbst“ sein will, ist das, weil sie Liebe ist. Eine „ganze“ Liebe, die nicht ihr Gegenteil verdrängen muss.
In diesem Sinne: Frohe Weihnachten! Er-leben Sie das Fest als Ausdruck der Liebe in all ihren Aspekten. Und wagen Sie es insbesondere, auch diejenigen ernst zu nehmen, die nicht in die Schaufenster der (Vor-) Weihnachtszeit gehören.