„Der große Sport beginnt dort, wo die Gesundheit endet“ (Brecht)
Es ist so eine Sache mit den Grenzen. Ich meine nicht die politischen, sondern die persönlichen. Einerseits häufen sich die Berichte, wie Menschen arbeitsunfähig und krank werden, weil sie „an ihre Grenzen“, nämlich die ihrer Leistungsfähigkeit, gekommen sind. Andererseits ist die „eigenen Grenzen überschreiten“ für viele ein Ideal: Man stellt sich mutig den scheinbar unbezwingbaren Herausforderungen und wächst über sich selbst hinaus. Nicht nur im (Leistungs-)Sport, wo Baron de Coubertin die olympische Devise „Höher, weiter, schneller“ in die Welt gesetzt hat. Auch die Grenzen des guten Geschmacks gilt es offenbar zu überschreiten, gerade zu besichtigen in den Ekelprüfungen des „Dschungelcamps“. Ob negativ oder positiv besetzt, das Muster ist das gleiche: Grenzen sind da, um überschritten zu werden. Gelingt es, erntet man Ruhm, anderenfalls Schande oder Krankheit. Es ist der homo clausus, der eingeschlossene Mensch, der da versucht, aus seinem Gefängnis auszubrechen.
Der Begriff des homo clausus, das Selbst im Gehäuse, stammt von dem deutschen Soziologen Norbert Elias (1897-1990). In der „Geschichte der Zivilisation“ (1939) analysiert er die Vorstellung, dass der einzelne Mensch eine eigene Welt für sich sei, die unabhängig von der Welt außerhalb, also auch von anderen Menschen existiere. Für Elias ist die Selbstwahrnehmung, „abgekapselt“ zu sein, Ergebnis einer Affektkontrolle, die der homo clausus in einem jahrhundertelangen Zivilisationsprozess erlernt hat. Im 17. Jahrhundert legte der Philosoph Rene Descartes den philosophischen Grundstein für die Auffassung, dass das Innenleben des Menschen (Geist, Erfahrung, Gewissen) von der objektiven Welt (dem eigenen Körper wie auch dem gesamten physischen Universum) grundsätzlich getrennt sei. Sein Diktum: „Ich denke, also bin ich“ ist philosophisch längst widerlegt. Dennoch geistert es weiterhin unaufhaltsam durch die Welt und prägt unsere Wirklichkeit, zum Beispiel durch die Vorstellung, unser Körper sei ein „Ding“, das wie eine Maschine potenziell grenzenlos optimiert werden könne.
Ein zeitgenössischer Philosoph bringt dieses Selbstbild des Menschen auf den Punkt:
„In der Außenwelt, so nehmen wir an, existieren räumlich ausgebreitete Dinge, in der davon säuberlich geschiedenen Innenwelt der Seele oder des Bewusstseins hingegen Vorstellungen, Gedanken, Gefühle. Letztere glauben wir nicht draußen im Raum anzutreffen, auch nicht in unserem Körper, insofern dieser auch nur ein Ding im Raum ist, sondern in uns selbst, an einem Ort, der kein Ort ist, weil er sich nicht räumlich lokalisieren lässt, an einem geistigen, ungreifbaren Seelenort, an dem wir dennoch irgendwie zu sein scheinen. Von diesem Nichtort schauen wir dann hinaus in die Welt, wie aus einem Raum, der zwar Fenster hat, den wir aber nicht verlassen können, Gefängnis und Refugium in einem.“(Michael Hauskeller, „Ich denke, aber bin ich?“ 2004)
Der Versuch, diese Grenzen mit der Leistungsoptimierung des eigenen Körpers zu überschreiten, ist zum Scheitern verurteilt. Solange man an der Vorstellung festhält, dass der Wille dem Körper befiehlt, kann der Ausbruch aus demselben nicht gelingen. Es ist, als würde man sich im Gefängnis fit halten mit heftiger Gymnastik: nach 100 Liegestützen oder Situps ist man physisch vielleicht fit – aber nicht weniger eingesperrt als zuvor.
Der Finger und der Mond: Geist und Körper im Taiji
Im Inneren Taiji ist der Umgang mit dem eigenen Körper ein anderer. Hier werden Geist und Körper ebenfalls als getrennt wahrgenommen, aber der Geist befiehlt dem Körper nicht, sondern führt ihn. Auf diese Weise entsteht eine Einheit von Geist und Körper, die nichtsdestotrotz hierarchisch ist, weil der Geist an erster Stelle steht. Und diese Ordnung macht es möglich, die Grenzen des homo clausus zu überschreiten.
Zeigt der Finger auf den Mond, so ist der Mond gemeint und nicht der Finger. Dieses bekannte Gleichnis verdeutlicht die verschiedenen Möglichkeiten des Zusammenspiels von Geist und Körper: Schaut man auf den Finger, reicht der Geist nur bis zum Ende des Fingers. Schaut man auf den Mond, reicht der Geist etwa 380 000 km über die Körpergrenzen hinaus. Der Körper wird Teil des Kosmos. Diese Bewegung ist intentional, weil sie etwas zeigen will. Wäre die Aufmerksamkeit hingegen am Finger zu Ende, gäbe es andere Optionen: z.B. die Selbstdarstellung, die die Aufmerksamkeit von außen braucht, weil die eigene Aufmerksamkeit im Körper befangen bleibt, oder die „Nabelschau“, die narzisstisch den eigenen Arm genießt, ganz ohne Bezug nach außen. Die Aufmerksamkeit muss grenzenlos sein und darf nicht im Körper stecken bleiben: Zeigt der Finger, vom Geist geführt, auf den Mond, fließt das Qi (Energie) durch den Arm ins potentiell Unendliche und es entsteht Innere Kraft. Im Test beweist sich immer wieder, dass eine andere Person den so ausgerichteten Arm nicht beugen kann. Ist die Fingergrenze jedoch auch die Grenze des Geistes, kann Kraft nur durch Muskelanspannung erzeugt werden. Versucht nun jemand anders, diesen Arm zu beugen, so gelingt das vielleicht, aber nur mit viel Muskelkraft.
Diese einfache Übung zeigt den Weg, wie im Taiji Grenzen überschritten werden können und das Selbst aus dem „Gehäuse“ herauskommen kann. Westlicher Sport schindet den Körper und schafft es trotzdem nicht. Der Grund ist simpel: Er kennt den Mond nicht. Deshalb kann man den Körper nur isoliert als anatomischen „Körper“ im Sinne der klassischen Physik verstehen und den Geist als darin eingesperrt, als „Gespenst in der Maschine“, wie es ein anderer Philosoph(Gilbert Ryle) in der Mitte des letzten Jahrhunderts ausdrückte. Dass dieser Geist den Körper nun von außen wie eine Maschine antreiben und vermessen soll, erscheint doch geradezu paradox. Zumindest für diejenigen, die schon einmal ihre Innere Kraft gespürt haben.