„Ein Kilo Praxis wiegt mehr als eine Tonne Theorie“
Als ich achtzehn und noch Schüler war, hatte ich mir einen (gebrauchten) Motorroller zugelegt: Zündapp Bella hieß das gute Stück, 200 ccm stark, schick und schnittig. Ich wollte aber noch mehr als ihn nur fahren, wollte ihn auch verstehen. Also ging ich eines Tages daran, meinen Roller auseinander zu schrauben.
Leider war (und bin) ich technisch äußerst unbegabt: Meine Faszination von Technik (ich bestaune die Bilder im Internet, auf denen ein Auto nach der 100 000 km-Testfahrt, in alle Einzelteile zerlegt, dem Betrachter dargeboten wird) und mein Wunsch, sie zu verstehen finden ihre Grenzen, wenn ich ein Werkzeug in die Hand nehme. So blieben denn auch einige Schrauben übrig, als ich alles wieder zusammengesetzt hatte, naja, jedenfalls fast alles, und ich musste mir versierte Hilfe holen, damit der Roller wieder fahren konnte.
Taiji als Bewegungskunst ist ein technisches Wunderwerk, und meine Lebensaufgabe, wie es scheint, besteht darin, alle Einzelteile auseinanderzunehmen, zu verstehen und wieder zusammenzusetzen. Aber weil es sich um etwas Lebendiges handelt, sind die Werkzeuge, die dazu nötig sind, keine mechanischen Geräte, sondern das eigene Empfinden und der eigene Geist, deren Zusammenwirken mit dem Begriff „Spürbewusstsein“ beschrieben werden kann.
Es gibt eine Reihe von alten Texten aus den letzten 250 Jahren über Taiji als Bewegungskunst, nicht viele, aber gewichtige, die in knapper Sprache die Essenz der Erfahrungen der Meister formulieren, die sie in lebenslanger Beschäftigung mit dem „Wunderwerk“ Taiji gefunden haben. Sie haben, um es etwas technischer auszudrücken, ihr Fahrzeug zerlegt, verstanden und wieder zusammengesetzt, und die Erkenntnisse, die ihnen dabei wichtig erschienen, aufgeschrieben.
Leider sind diese Texte, von denen ein Teil als „klassisch“ gilt, aber keine Anweisungen für die direkte praktische Umsetzung , sondern können nur auf der Verständnis-Stufe dessen, der sie studiert, verstanden werden. Das heißt, man muss Taiji praktizieren, um sie zu verstehen – aber wie sieht die Praxis aus? Deswegen ist (fast) jede heutige Interpretation unterschiedlich, weil die Praxis bei fast jedem anders ausgeprägt ist.
Es gibt, in Deutsch, bislang zwei Versuche, sich diesen Texten wissenschaftlich zu nähern, beide Dissertationen. Die eine, von Rainer Landman (Landmann, Rainer, Taijiquan. Hamburg, 2002) stellt die alten Texte, neu übersetzt, zusammen und ordnet sie nach Themengruppen: also was hat dieser Meister, dieser Stil, gesagt zur Kopfhaltung, zu den Füßen, zum Qi, zur Inneren Kraft etc. Ein äußerst praktisches Kompendium, das mir sehr geholfen hat, die offensichtliche Ausprägung der Atemtypen (die in China ja nicht systematisch unterschieden werden) in den alten Texten zu entdecken. Die Voraussetzung war jedoch, dass ich die Unterschiede der Atemtypen praktisch – an mir selbst und an meinen Schüler/innen – erfahren hatte. Die Interpretationen des Autors, ich gestehs, sind für mich von geringerem Interesse.
Die andere Dissertation eines chinesischen Autors (Jian Teng, Taijiquan – eine neue Interpretation. Hamburg, 2005), Professor für Sportwissenschaft in Köln, schreibt äußerst kenntnisreich auf über 400 Seiten über das, was er eine “neue Interpretation“ des Taiji nennt. Ausgehend von den ab Ende des 18. Jahrhunderts immer ausführlicher werdenden Taiji- Texten scheint er zu meinen, dass ausführlichere (modernere) Beschreibung auch eine inhaltliche Verbesserung des Taiji mit sich bringen würde.
Das halte ich für einen Irrtum. Taiji kann man nicht verbessern, man kann es nur verstehen – und das bedeutet eben, es PRAKTISCH verstehen. Yang Chengfu, der bekannteste Meister im letzten Jahrhundert, soll gesagt haben, dass drei Leben nicht ausreichen würden, Taiji neu zu erfinden. Ich denke, dass wir froh sein können, wenn wir in unserem Leben möglichst viel von dieser wunderbaren Kunst lernen können. Wenn es uns gelingt, Bewegungs-“Teile“ auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen – ihr Zusammenwirken zu erkennen – ist da immer dieses beglückende Gefühl, etwas entdeckt oder gefunden zu haben, was in uns darauf gewartet hat, ans Licht zu kommen, und was die alten Meister beschrieben haben, das wir auf einmal verstehen können, nachdem es vorher abstrakt und kompliziert erschien.
Leider wird die zweite Dissertation nichts zum Verständnis und zur Verbreitung von Taiji beitragen können (sie sitzt auch allein und ohne Kommentar seit 2005 auf Amazon) – zu weitschweifig, zu ungenau in der Begrifflichkeit, zu allgemein in der Interpretation der Textpassagen. Zu viele Teile und Schrauben, mit denen hantiert wird und die übrig bleiben, als dass daraus das Bild eines tauglichen Gefährts entstehen würde; eher entsteht eine zweckfreie Maschine, wie sie z.B. Jean Tinguely gebaut hat: Erstaunlich und verwirrend, irgendwie faszinierend, aber weit entfernt von der Suche nach Klarheit , Einfachheit und Praxistauglichkeit, den Eigenschaften, die Taiji so einzigartig machen.