Mit diesen simpel anmutenden Begriffen brachte mein Lehrer, Meister K.H.Chu, seine Maxime für Taiji auf den Punkt: „Happy Qi“. Taiji sollte so ausgeführt werden, dass man sich gut fühlt und die Innere Energie (Qi) spürt. So kann der oder die Praktizierende eine Kraft entwickeln, die einen anderen Menschen besiegen kann, ohne weh zu tun oder zu verletzen. Darin sind zwei Prinzipien enthalten, die unser Leben gleichermaßen bestimmen: Die (subjektive) Selbstwahrnehmung und die (objektive) Fähigkeit, etwas in der Welt zu bewirken. Aber: Wie kann ich feststellen, ob und in welchem Maß ich glücklich oder unglücklich bin? Wie messe ich meine Energie und wie unterscheide ich die Innere von „roher“ Kraft? Falls man das überhaupt muss...
Doch der Glaube daran scheint zu wachsen. Fitnessarmbänder, Schrittzähler, miCoach, Nike+: Immer mehr Unternehmen bringen Produkte zur Überwachung der persönlichen Fitness auf den Markt. Und immer mehr Sportlerinnen und Sportler nutzen diese – mit dem Ziel, den eigenen Lebensstil immer weiter zu optimieren. Ob im Fitnessstudio, beim Joggen auf der Straße oder im Büro: Fitness-Armbänder messen, wie viele Schritte ein Mensch am jeweiligen Tag zurückgelegt hat, dazu den Puls und den Kalorienverbrauch . "Quantified Self" heißt der Trend aus den USA, bei dem sich Menschen konsequent selbst vermessen. Ziel ist es, bessere Leistungen im Training zu bringen und gleichzeitig einen möglichst gesunden Lebensstil an den Tag zu legen. Woher der Trend kommt und wo er hinführen kann, beantwortet die Trendforschung:
Corinna Mühlhausen und Professor Peter Wippermann haben mit TNS Infratest eine repräsentative Befragung zum Thema Health Style durchgeführt und sind dabei der Frage nachgegangen, warum Fitness-Tracker immer beliebter werden: "Dabei haben wir herausgefunden, dass Gesundheit noch so viel mehr als die bloße Abwesenheit von Krankheiten ist", sagt Mühlhausen. "Gesundheit ist für die Menschen in den vergangenen Jahren ein Synonym für die persönliche Leistungsfähigkeit geworden."
Den Trend, die körperlichen Erfolge zu messen und zu skalieren, betrachtet die Expertin aber nicht als grundsätzlich negativ. "Es geht ja nicht immer nur darum, höher, schneller und weiter zu kommen. Sondern man hat dadurch eben auch die Möglichkeit, zu überprüfen, wie entspannt man ist, und das ist doch durchaus positiv." (So B. Schmidt im März 2015 auf web.de.)
So harmlos sich das liest, so erschreckend erscheint es auf den zweiten Blick. Mir zumindest. Kann ich etwa nicht mehr selbst spüren, ob ich entspannt bin? Oder falls doch, muss ich gleich wieder vermessen, wie entspannt ich bin? So messe ich den Erfolg meiner Anstrengung, zu entspannen. Jetzt werden nicht nur objektive Leistungen vermessen, sondern auch die subjektive Wahrnehmung.
Dieses Streben, alles zu vermessen, ist Teil dessen, was Dr. Herbert Pietschmann (*1936) das „mechanistische Denken der Neuzeit“ nennt. Der österreichische Professor für theoretische Physik spannt einen „Denkrahmen“ auf, der auf vier Säulen beruht und von vier Säulenheiligen der europäischen Philosophie getragen wird:
1) Alles, was messbar ist, soll gemessen werden. (Galileo Galilei, 1564-1642)
2) Alles in kleinste Teile zerlegen. (René Descartes, 1596-1650).
3) Entweder – oder (Aristoteles, 384 v.Chr. – 322 v.Chr.)
4) Ursache – Wirkung (Isaac Newton, 1643-1727).
„Dieser Denkrahmen führt laut Pietschmann zum in der westlichen Welt nach wie vor weit verbreiteten mechanistischen Denken (Schwarz-Weiß -Denken). Gleichzeitig propagiert er folgende Maxime: Unterscheide, ohne zu trennen! Diese Maxime könnte auch als ganzheitliches, integriertes oder systemisches Denken bezeichnet werden, welches laut Pietschmann in ost-asiatischen Kulturen vorherrscht“. (PM-BLOG.com)
Genau. Und damit sind wir beim Taiji. Glück und Energie entstehen beim Taiji dadurch, dass wir Bewegungen zwar analytisch genau unterscheiden, um sie zu erkennen, aber sie nicht im zeitlichen Ablauf voneinander trennen. Denn sie sind Teil des Flusses der Taiji-Form und ergeben den Energie-Flow des “Happy Qi“. Glück und Energie entstehen dadurch, dass wir so die Gefahren vermeiden, die nach Paul Valery, dem französischen Philosophen und Dichter (1871-1945), die „Welt bedrohen“: Ordnung und Unordnung. Die starre Ordnung, die durch die Trennung der Dinge entsteht, und die Unordnung, wenn man Unterscheidung mit Trennung verwechselt. Diese Verwechslung führt dazu, dass man sich dem „Energiefluss“ irgendwie hingibt, um der starren Ordnung zu entkommen. Dieser Fehler, jegliche Strukturierung aufzugeben, wird im Taiji häufig praktiziert. Die beiden Pole schwarz und weiß gehören zusammen, aber nicht getrennt durch Entweder-Oder, sondern integriert, wie es die beiden Pole des Yin-Yang-Symbols, die zusammen ein Ganzes bilden, darstellen. So auch Glück und Energie.