„Wie lieblich steigt sie übern Mist
Und ich hab sie noch nie geküsst!“
(Wonnebräu, der Schreiber)
„Blut und Liebe“ ist der Titel eines grotesken „Ritter-Schauer-Dramas“ von Martin Luserke, das heute noch bei Amateurtheatergruppen sehr beliebt ist. Ich kenne es gut, denn ich habe es 1960 in einer Gruppe Pubertierender aufgeführt – allesamt damals höchst fasziniert von den Themen „Rittertum und Liebeszauber“. Die Darbietung hatte ihren ganz eigenen Charme: alle Rollen männlich besetzt, das Bühnenbild eigenhändig von uns gezimmert und gemalt. Ich gab den bärbeißigen Ritter Wolf von Wolfseck mit Bart – der damals allerdings noch nicht wachsen wollte. Also musste er angeklebt werden und zwar mit Uhu und eigenen, beim Friseur aufgesammelten Haaren. Zur Nachahmung nicht zu empfehlen, denn das brennt höllisch und die Haare gehen auch nicht freiwillig wieder ab. Am Ende der Aufführung waren fast alle tot, weil Liebeszaubertrank und tödliches Gift verwechselt worden waren. (Luserke,1880 -1968, war ein deutscher Schriftsteller und Reformpädagoge, dessen Arbeit 1934 von den Nazis verboten wurde.)Mit den Themen „Blut und Liebe“ geht es in dem Stück im Grunde um die Urprinzipien Mars und Venus, ums Kämpfen und ums Lieben. Genau wie eigentlich immer im Leben: Wie behaupte ich mich? Wie grenze ich mich ab? Wie gehe ich meinen eigenen Weg? Wie kann ich Liebe geben und empfangen, ohne mich im anderen zu verlieren oder ohne mich gewaltsam behaupten zu müssen? So und so ähnlich dreht sich das menschliche Leben ums Kämpfen und ums Lieben, um Mars und Venus. In der Kunst werden diese Themen behandelt und reflektiert, und wenn nur gekämpft oder nur geliebt wird, ist es keine Kunst. Allenfalls Unterhaltung – sei es als Action oder als Kitsch.
Doch wie können wir zwischen diesen beiden Urprinzipien vermitteln, wie können wir die Mars- und die Venusenergie in unserem Leben sinnvoll einsetzen? Insbesondere mit dem Kriegerischen finden viele keinen konstruktiven Umgang, wie Rüdiger Dahlke es gut zusammengefasst hat. Im Nachwort zu dem schönen Buch „König, Krieger, Magier, Liebhaber“ des amerikanischen Psychoanalytikers Robert Moore schreibt Dahlke, dass „fast alle Pädagogen und sogar einige Religionsstifter statt einer Aussöhnung mit dem Urprinzip des Mars dessen Gegenpol – Venus – empfehlen, predigen und einfordern… Es ist immer am leichtesten, einfach das Gegenteil zu fordern, aber es klappt einfach nicht, wie wir überall sehen. Mit Liebe gegen Gewalt vorzugehen, hat auf Dauer wenig Aussicht auf Erfolg.“ Dahlke bringt es auf den Punkt: Statt den eigenen Krieger mit der Möglichkeit der Aggressivität und Destruktivität in sich zu entdecken, verleugnet und unterdrückt man ihn. Stattdessen sucht man Zuflucht bei der Friedfertigkeit, beim „Gutsein-wollen“, fälschlich als Liebe verstanden. Aber, siehe oben, es „klappt einfach nicht“, weil ein Leben nach der Devise „Venus statt Mars“ die eigene Autonomie verhindert: „Autonomie ist derjenige Zustand der Integration, in dem ein Mensch in voller Übereinstimmung mit seinen Gefühlen und Bedürfnissen ist“, sagt der Psychoanalytiker Arno Gruen. Und weiter: „In dem Grad, in dem der gesellschaftliche Sozialisierungsprozess aber Autonomie blockiert, wird dieser Prozess selbst Erzeuger des Bösen, das er zu verhindern sucht.“
Im Taiji haben wir die Chance, die Pole Mars und Venus in uns zu erfahren und sie zu versöhnen – auch eine Möglichkeit, Yin und Yang zu verstehen. Denn Taiji hält den einzigartigen Weg für uns bereit, unsere aggressiven Impulse (zu kämpfen) in eine Kraft zu verwandeln, die den anderen nicht verletzt, um gegen ihn zu bestehen. Es wird also, auch symbolisch, kein Blut vergossen. Allerdings entsteht dieses „Nicht-Kämpfen“ erst aus der Möglichkeit, kämpfen zu können. Das ist der Weg des Kriegers in den östlichen Kampfkünsten: zu lernen, wie man andere vernichten könnte, aber diese Fähigkeit nie einsetzen zu wollen. So entsteht die Versöhnung von Mars und Venus: durch die „Erlösung des Mars-Prinzips“ (Dahlke) und nicht durch seine Ersetzung durch (vermeintliche) Liebe.
Doch leider verlockt das Taiji durch seine Anmutung, eine „weiche“ Kampfkunst mit sanften Bewegungen zu sein, zu einer Praxis der „Sanftmütigkeit“: Alle Bewegungen streicheln den anderen nur, weil sie ihn „lieben“ wollen. Deswegen wird der Partner in den Partner- und Pseudo-Kampfübungen nur ein bisschen geschubst. So verstandenes Taiji ist blutleer, weil es das Mars-Prinzip, also das Potenzial zur Zerstörung, verleugnet. Doch dann kann es nicht in Innere Kraft verwandelt werden.
Richtig verstandenes Taiji befähigt hingegen dazu, Aggressivität in Innere Kraft umzuwandeln. Warum das geht? Wegen der inneren Entwicklung. In der Sprache der Taiji-Meister besteht innere Entwicklung in der Pflege des Qi zur körperlich-geistigen Selbstentfaltung. Kämpfen zu lernen, nur um sich zu verteidigen, gilt als bloßer Erwerb von äußeren technischen Fähigkeiten. Die „wahre Methode“ des Taijiquan besteht darin, beides zu verbinden: innere Entfaltung und die Fähigkeit zu kämpfen. Die Effektivität von Taiji als Kampfkunst liegt dabei in der zweifachen Entwicklung des Körpers. Zum einen wird der Körper mit der Zeit stark und elastisch wie ein Ball und werden die Arme wie „Eisen, mit Baumwolle umwickelt“, obwohl sie beim Üben nur leicht und entspannt bewegt werden. Zum anderen kommen die – fast nicht sichtbaren – gegenläufigen Spiralbewegungen von Kopf, Wirbelsäule, Zentrum und Beinen dazu. Sie bilden in dem großen Ball des Körpers rotierende, ineinander greifende Segmente, deren Zusammenwirken einen Angriff gleichzeitig anzieht und abstößt, wie ein Wirbelsturm die Gegenstände in seiner Nähe. Beide Prinzipien, Kämpfen und Nichtkämpfen, befinden sich dabei im Einklang miteinander.
So kann man also sagen: Inneres Taiji ist der beste Weg zur Versöhnung von Mars und Venus, von Blut und Liebe. Weil das Kämpfen der persönlichen Entwicklung zum Höheren dient.