Es muss im Jahr 1981 gewesen sein, als mein langjähriger Lehrer, Meister Chu, zum ersten Mal meine Schule in Frankfurt-Nied besuchte. Seit etwa 5 Jahren widmeten meine Schüler und ich uns damals dem Taiji – teilweise in Latzhosen und verhüllt durch lange Haare. Meister Chu verblüffte uns mit einigen Aussagen, die neu für uns waren. Zum Beispiel dass es im Taiji nicht darum gehe, sich treiben zu lassen, sondern gegen die Strömung zu rudern oder zu paddeln. Treiben lassen bedeute Rückschritt. Diese Aussage widersprach gänzlich unserem damaligen Verständnis von Taiji und Daoismus.
Eine weitere Aussage, die mich sehr irritierte, war der Vergleich des Menschen mit einem Auto: Arme und Beine entsprechen den Rädern, das Zentrum dem Motor. Das Qi, die Vitalenergie, verglich er mit dem Treibstoff. Der Geist als zündender Funke, der alles in Gang bringt, bildet dann die Batterie. Von dieser Analogie waren einige regelrecht geschockt. Machte man denn nicht gerade Taiji, um den Körper als Organismus zu erfahren und nicht als Maschine? Heute weiß ich: Wenn man bedenkt, dass alles, was ein Mensch erfindet, immer nur das Abbild seiner inneren Erfahrungswelt und seiner Stellung in der Welt ist, dann ist die Funktionsweise eines Autos ein zulässiger Vergleich mit dem Ablauf der Taiji-Bewegungen.
Heute möchte ich den „Motor“ etwas genauer unter die Lupe nehmen. Statt eines Autos wähle ich als Analogie einen Kaffevollautomaten mit Mahlwerk. So einen wie den, der meine alte Espressomaschine mit Siebträger endlich abgelöst hat.
Der Espresso beginnt mit Bohnen, die zu Pulver zermahlen werden. Unter Druck wird dieses Pulver mit heißem Wasser vermischt. Heraus kommt der köstliche Espresso: fürwahr ein Lebenselixier, denn „guter Kaffee macht glücklich“, wie es in der Werbung heißt. Taiji beginnt mit der biologischen Energie unseres Körpers. Sie wird unter Druck mit dem Atem vermischt. Den Druck übt das Zwerchfell im Bauchraum aus. Heraus kommt das köstliche Qi, das als natürlicher Muntermacher so angenehm durch den Körper zirkuliert und der Treibstoff für die Innere Kraft ist.
In der Auffassung des Energiekörpers, wie sie der chinesischen Meditation, dem Qigong und dem Taiji zugrunde liegt, sammelt sich das Qi im so genannten Unteren Dantien, 2 bis 3 Finger breit unter dem Nabel gelegen. Das ist zwar auch ein Punkt auf der Haut, aber eigentlich das Zentrum des Unteren Zinnoberfeldes, wie das Dantien auch genannt wird, liegt also im Bauchinneren. Und gegenüber diesem Zentrum, sozusagen die Begrenzung des Zinnoberfeldes im Rücken, liegt das Lebenstor, chinesisch Mingmen. Das ist ein Energiezentrum zwischen den Nieren auf der oberen Lendenwirbelsäule; da, wo sich gern die Bandscheiben verabschieden und dafür die Rückenschmerzen sich einnisten. In der Chakrenlehre heißt diese Region Manipura, Leuchtendes Juwel, und istdenQualtäten „Wille, Macht, Persönlichkeit, Weisheit, Verarbeitung (von Erlebnissen und Gefühlen)“ zugeordnet.
In unserer Arbeit mit den Atemtypen hat sich herausgestellt, dass die Bewegung der Wirbelsäule unterhalb des Lebenstores (direkte Bewegung im Lebenstor produziert ein Hohlkreuz) das Lebenstor öffnet und schließt, und wie eine Pumpe den wahren Atem in Gang bringt. Wir können willkürlich atmen, mit Atemtechniken beispielsweise, und wir können den Atem zulassen, wie wir es im Schlaf tun. Wahrer Atem, so verstehe ich die Daoisten, ist, wenn wir es fertigbringen, dass es uns atmet, während wir wach sind und uns willkürlich bewegen.
Dort im Lebenstor, chinesisch Mingmen, wird also unser individueller biologischer Rohstoff – die Kaffebohnen – gemahlen und mit dem Rohstoff vermischt, der uns von außen gegeben wird, der Atemluft – dem heißen Wasser – um als Lebenselixier genossen werden zu können. Ein wahrhaft alchimistischer Vorgang, in dem Materie (unser Körper) veredelt wird durch den Atem des Kosmos. Des Kosmos? Natürlich. Oder denken Sie, wir produzieren unseren Atem selbst? Gelenkt wird dieser Vorgang vom Geist. So entsteht nicht nur Innere Kraft, sondern auch Inspiration. Und allein deshalb konnten die Menschen das Auto erfinden und den Kaffevollautomaten. Man sieht: Spiritualität durchdringt alles. Und: Die Verwirrung, die Meister Chu gestiftet hat, war halb so schlimm.
Die Zusammenhänge um das Mahlwerk Lebenstor, das auch anatomisch in enger Verbindung mit dem Zwerchfell steht, sind in den letzten Jahren hier an unserer Akademie erforscht worden: Das praktische Ergebnis ist Lebenstor-Qigong und seine Bedeutung im Taiji. Und weil es nun ca 10 Jahre her ist, dass die Erforschung begonnen hatte und vor allem, weil die Entdeckungen reif für die Weitergabe sind, gibt es Ende des Monats (am 28./29. März) zum ersten Mal einen kompakten Kurs mit diesem Thema, offen für alle Taiji- und Qigong-Praktizierenden. Wir laden alle Interessierten zu dieser spirituellen Espresso-Zubereitung ein!