"Gott hat die Welt geordnet nach Maß, Zahl und Gewicht" (apokryph)
(Die Apokryphen sind Texte mit christlichen Inhalten, die nicht in den Bibelkanon aufgenommen wurden.)
Zurück zum Ursprung
oder: Warum Fußball-Fans Spiritualität im Alltag leben
Die Denktradition, die Taiji am stärksten beeinflusst hat, ist der philosophische Daoismus (der philosophische, wohlgemerkt, nicht der „religiöse“). Im Daoismus, gleichgültig welcher Schule, streben die Anhänger danach, zum Ursprung zurückzukehren. Je nach Quelle wird dies in mehr oder weniger mystizistische Begriffe gegossen, beispielsweise als die Rückkehr zum Einen, die Rückkehr zur Perle oder zum Zustand, bevor es Himmel und Erde gab. Mitunter ist sogar die Rede von der „Erschaffung des kosmischen Embryos“. (So zu finden etwa bei Wikipedia)
Dass „Zurück zum Ursprung“ auch der Firmenname eines österreichischen Bio-Versands ist, verwundert auf den zweiten Blick weniger, führt dies doch die Schwammigkeit solcher Konzepte vor Augen.
Eine Taiji-Homepage aus dem Internet vermag wenig mehr Klarheit zu verschaffen: „Auch das Prinzip der Rückkehr zum Ursprung, zum Natürlichen durch die Wendung nach innen ist ein Grundgedanke der Übungsformen (Bewegung in Stille). Die innere Achtsamkeit anstelle unserer gewöhnlichen Außenorientierung ermöglicht Klarheit und Einsicht.“
Was verbirgt sich hinter dem „Ursprung“ und all den Begrifflichkeiten drumherum? Objektiv kann man das offenbar nicht definieren. Wissen werden es nur die, die es durch eigene tiefe Meditation erfahren haben. Und die anderen sollten nicht darüber sprechen. Wenn Sie nun erwarten, dass ich Ihnen die Bedeutung dieser mystizistisch-abgehobenen Floskeln erkläre, muss ich Sie enttäuschen: Ich weiß es auch nicht. Und nein: Diese „Innerlichkeit“ ist auch nicht gemeint, wenn wir hier an der Taiji-Akademie von „Innerem Taiji“ sprechen.
Die vielen abstrakt-philosophischen Definitionen sind zu abgehoben, um sich in meiner und unserer Arbeit wiederzufinden. Dennoch gibt es auch bei uns das Konzept „Rückkehr zum Ursprung“ – jedoch mit einer ganz greifbaren Bedeutung.
Beziehen wir uns statt auf den „kosmischen Embryo“ auf den menschlichen, erforschbaren und auch erfühlbaren Embryo, der wir alle einmal waren. Wenn wir uns vergegenwärtigen, wie unsere Entwicklung verlaufen ist, dann können wir einen sehr einfachen und fassbaren Gedanken begreifen: Unsere Arme und Beine sind aus dem Rumpf herausgewachsen. Etwa ab dem 40. Tag der Embryonalentwicklung entstehen „Handplatten“ und „Fußplatten“ und ab dem 55. Tag entwickeln sich Hände und Füße. So gesehen, bedeutet „Rückkehr zum Ursprung“ im Taiji nicht mehr und nicht weniger, als dieser Tatsache Rechnung zu tragen und alle Bewegungen der Gliedmaßen aus dem Zentrum heraus zu vollführen. Und das muss konkret verstanden und ausgeführt werden, sonst sehen die Bewegungen nur aus wie Taiji und wird die „Rückkehr zum Ursprung“ mit Rückzug in die Innerlichkeit verwechselt, aufgewertet durch einen überflüssigen und schwer zu verstehenden Mystizismus.
Niemand, der oder die mit Taiji beginnt, kann nach meiner Erfahrung die ursprüngliche Art der Taiji-Bewegung unmittelbar umsetzen. Sie muss er-übt werden. Zu stark sind wir geprägt durch die westliche Vorstellung, dass wir einen Körper „haben“, den wir wie ein Instrument durch unseren Willen lenken und zu Leistungssteigerungen „optimieren“ können. Arme und Füße sind Einzelteile – mit ihnen „machen“ wir etwas, was sie gefälligst zu machen haben. Besonders die Hände, mit denen wir die Welt erfassen, vermessen und gestalten. Nicht umsonst ist Fußball für viele ein beliebter Ausgleich zu unserer Alltagsexistenz: Endlich sind wir mal von unseren Händen erlöst, den Werkzeugen unseres Machbarkeitswahns, und wenn sie doch aufmucken, bekommen sie die rote Karte. Wie erfrischend ist es doch zu erleben: Die Füße haben Vorrang. Erfrischend auch deshalb, weil dieses Erleben viel mehr dem menschlichen Ursprung entspricht, denn die Füße sind dichter am Zentrum als die Hände. So kann man Fußball als spirituelle Disziplin des Alltags verstehen.
Nun ist es natürlich auch keine Lösung, die Arme im Taiji oder Qigong „totzustellen“, sie schlaff und passiv zu bewegen – im Wunsch, die „innere Achtsamkeit“ gegen unsere „gewöhnliche Außenorientierung“ einzutauschen. Denn so wird das Potenzial, etwas mit unseren Händen zu tun, ausgeklammert. Das ist im schlechten Sinn regressiv, weil es die Fähigkeit zu handeln vernachlässigt. Vielmehr sollten wir berücksichtigen, was die Daoisten wirklich mit der „Rückkehr zu Ursprung“ gemeint und die alten Taiji-Meister in ihren schriftlichen Zeugnissen hinterlassen haben: aktives Tun. Der bekannte chinesische Philosoph Feng Youlan (1895-1990) sagte: „Die daoistische Philosophie ist das einzige mystische System in der Welt, das nicht fundamental antiwissenschaftlich ist.“
Im Grunde vereinigt Taiji in einzigartiger Weise mystisches (nicht mystizistisches!) Denken mit praktischem Tun. Innere Kraft ist also kein nebulöses subjektives Prädikat, sondern erfahrbare Wirklichkeit.
Denn die Faszination und der Wert des philosophischen Daoismus liegen ja gerade darin, dass er Außen- UND Innenwelt zusammen erforscht und gestaltet. Verlässt man sich nur darauf, dass alles Existierende messbar sei, womöglich weil Gott es gesagt habe, verfällt man dem Machbarkeitswahn. Wenn man dann noch die eigene Innerlichkeit ohne Bezug auf die Außenwelt kultiviert, landet man in der Mystizismus-Falle.
Der daoistische Weg im Inneren Taiji besteht darin, den ursprünglichen Weg der eigenen Entwicklung zu finden und wieder freizulegen. Nur er bringt Ruhe und Kraft. Das braucht gar keine mystizistische Überhöhung. Vielmehr ist der Gedanke – nicht seine Umsetzung! – sehr schlicht: den Weg zum eigenen Selbst zu gehen. Wer ihn begonnen hat, weiß um den Gewinn. Und bekommt eine Ahnung von dem Ursprung, an den er letztlich führen wird.