Lernen auf chinesisch

29. Oktober 2015 | Frieder Anders | Lernen auf chinesisch

„Ich habe oft den ganzen Tag nicht gegessen
und die ganze Nacht nicht geschlafen,
nur um zu denken. Es nützte nichts.
Es ist doch besser, zu lernen.“ (Konfuzius)

Oder: Wie uns Konfuzius den Weg zum eigenen Atemtyp erschweren kann


Als ich 2005 begann, mich mit dem Thema „Atemtypen“ im Taijiquan zu beschäftigen, stieß ich auf ein Buch, das mir wichtige Einsichten vermittelte. Es war „Geheimnisse der chinesischen Meditation“, sein Autor Charles Luk (Lu K’uan –Yü). Er unterscheidet darin zwischen der normalen oder natürlichen Atmung und der umgekehrten Atmung. Die normale Atmung
„umfasst eine Einatmung, die bis zum Unterbauch geht, und eine Ausatmung, die vom Unterbauch (her kommt). Atmet man ein, so füllt die Luft alle Teile der Lunge, diese dehnt sich nach unten und drückt das Zwerchfell abwärts. Dabei entspannt sich der Brustkorb und der Bauch dehnt sich. Beim Ausatmen zieht sich der Bauch zusammen und drückt das Zwerchfell aufwärts gegen die Lungen, aus denen so die unreine Luft gepresst wird“.
Die umgekehrte Atmung verläuft entgegengesetzt: Beim Einatmen zieht sich der Bauch zusammen und die Lunge füllt sich. Beim Ausatmen entspannt sich der Bauch, der Unterbauch dehnt sich aus.
Allgemein gilt, dass die normale Atmung eher entspannend und die umgekehrte eher anregend wirkt. Dem entsprechend empfiehlt Charles Luk, in verschiedenen Situationen jeweils die eine oder andere Atmung anzuwenden. Darüber hinaus gibt es bei ihm viele Mischformen. Die Anleitungen jedoch, welche Art der Atmung wann erfolgen solle und für welchen Schüler die richtige sei, bleiben in dem Buch unterbelichtet: „Als ich mit meinen Übungen begann, empfand ich die geordnete Atmung (d.i. die umgekehrte, F.A.) als überaus hilfreich. Darum habe ich sie in der ersten Ausgabe dieses Buches empfohlen. Seitdem haben mir einige Leser geschrieben, dass sie nicht in der Lage seien, so zu üben. Ist also die geordnete [umgekehrte] Atmung nicht übbar, dann empfehle ich dem Leser, die natürliche Atmung zu üben. Sie ist frei von allen Belastungen.“
Hier will ich einhaken und die beiden beschriebenen Arten den von mir identifizierten Atemtypen zuordnen: Die normale Atmung passt für den Ausatmertyp, die umgekehrte Atmung für den Einatmertyp. Hätte es in China die (systematische) Kenntnis der Atemtypen gegeben, hätte Charles Luk seine Atem-Empfehlungen vermutlich entsprechend zugeordnet. Aber es gab und gibt sie dort nicht.
In China gelten andere Maßstäbe als der Rat, in sich hineinzuspüren und das individuell Passende zu wählen. Natürlich geht das auch. Die Zitate aus obigem Buch belegen es. Aber In-Sich-Hineinspüren ist sozusagen eine „Zusatzerlaubnis“ und keine systematische Vorgabe.
Die chinesische Methode lautet, dem Meister oder Lehrer zu folgen und ihn gewissermaßen zu kopieren. Schüler oder Schülerinnen, für die das nicht passt, müssen es trotzdem tun – es sei denn sie haben das Glück, es anders probieren zu dürfen. Doch meist sind die Regeln der chinesischen Meister starr: „Mach es so wie ich –sonst ist es falsch.“ Für diejenigen, die sich in Meditation und Kampfkünsten auf den Weg machten, ihr Eigenes zu finden, gab es dann oftmals nur die Trennung vom Meister: Entweder wurden sie verstoßen oder kündigten selbst die Verbindung auf.
Außer der (konfuzianisch geprägten) Meisterverehrung hat vermutlich noch ein Faktor zu der „Nichtentwicklung“ der Atemtypen in China beigetragen. Es ist die ungeheure Bedeutung, die das Lernen dort spielte und spielt, nachzulesen im Spruch des Konfuzius über diesem Text. Also doch wieder konfuzianisches Erbe.
Das ist heute noch genauso, und beileibe nicht nur in den Kampfkünsten. Die Devise, die bei uns zählt, nämlich „Probieren geht über Studieren“ gilt für die chinesische Erziehung andersrum: „Studieren geht über Probieren“. Seit kurzem werden die Unterschiede in der chinesischen und europäischen Erziehung heftig diskutiert. Wer sich darüber näher informieren möchte,  sei auf das Buch „Die Mutter des Erfolgs“ (2011) von Amy Chua („Tigermutter“) verwiesen (oder auf den Artikel in Wikipedia).

Vor einigen Wochen kam ein junge Chinesin zu mir: Sie würde gern Taiji erlernen. Gemeinsam fanden wir ihren Atemtyp heraus, ich zeigte ihr die für sie passenden Bewegungen und versuchte, sie den Unterschied der beiden Atemarten spüren zu lassen, damit sie vielleicht das Aha-Erlebnis ihres Atemtyps haben könnte. Aber: nichts da. Sie strengte sich  sehr an und konnte beide Arten gleichermaßen ausführen. Auf meine Frage, was sich denn besser für sie anfühle? sagte sie, beides gleich. Meinen Hinweis, dass sie einen bestimmten Atemtyp verkörpere und mit der Zeit merken könne, dass das Atmen in der empfohlenen Atmung besser für sie sei, konterte sie mit der Aussage, dass man doch beides lernen könne!
Also sprach Konfuzius: Es ist besser zu lernen als zu denken.
Vor diesem Hintergrund kann man es der jungen Frau nicht verübeln, dass sie mit dem Angebot, den eigenen Körper zu spüren, wenig anfangen konnte. Sie wird ihren Weg – zumindest mittelfristig – woanders suchen müssen. Sie hat keinen Kurs belegt und ich bin nicht um eine Schülerin, wohl aber um eine Erfahrung reicher geworden. Ich wünsche der jungen Frau viel Erfolg bei ihrer Suche. Möge sie ihr nicht nur trotz, sondern auch mit ihrem konfuzianischen Erbe gelingen.