Im Zentrum der chinesischen meditativen Disziplinen stehen drei Energiequellen. Sie werden als die Drei Schätze bezeichnet: Jing, Qi und Shen. Ziel des Meditierens ist es, diese drei Energiequellen zu harmonisieren. Ich will versuchen, die Drei Schätze mit Begriffen zu umschreiben, die in unserem Kulturkreis verständlich sind, und wähle den Begriff der Sphäre. Jing steht dann für die körperliche Sphäre, also den Bereich der biologischen und Sexualenergie. Qi bezeichnet die Sphäre, die zusammenhängt mit Atem und Blut, und Shen die mentale Sphäre. Der Weg, die drei zu harmonisieren, heißt Neigong, innere Arbeit. Auch Taiji und Qigong werden als Bestandteile dieses Weges aufgefasst.
Nach meiner Auffassung und Erfahrung kann man durch die tägliche Übung der Taiji-Form ebenfalls drei Schätze gewinnen, die viel mit den „echten“ Drei Schätzen zu tun haben. Über diese zu schreiben, kann um einiges konkreter ausfallen, mithin auch praktischer und erlebbarer für diejenigen, die Taiji kennen.
Ich meine die drei Teile, aus denen die Form besteht. Deren erster ist der Erde zugeordnet, der zweite dem Himmel und der dritte schließlich dem Menschen. Dies entspricht der Aufgabe des Menschen im alten China, Himmel und Erde zu verbinden. Symbolisch war dies die Aufgabe des Kaisers. Der Ausdruck Tian-Di („Himmel und Erde“) bezeichnet das Universum. Der Herrscher, Wang, sollte in seiner Person Himmel, Erde und Menschheit vereinigen, wie auch das chinesische Schriftzeichen 王 Wang erkennen lässt.
Wenn man morgens in den Tag und auf die Übungsfläche stolpert, die man sich für seine Taiji-Praxis reserviert hat – ich habe Glück, mir stehen 90 m² zur Verfügung – dann sind Körper und Geist noch halb im Traum und das Qi schläft noch. Fast automatisch beginnt man die Form und begibt sich in den ersten Teil hinein. An seinem Ende, nach ca. 3 Minuten, hat man die Erde wieder. Das Stolpern ist in halbwegs sichere Schritte übergegangen, der Geist ist erwacht und nimmt wahr, wo man sich befindet. Der Körper spürt die ersten Harmonisierungen in der wiedergewonnenen Koordination der Bewegungen, und vielleicht geht der Blick auch schon achtsam durch die Fenster und lässt das, was draußen ist, herein. Erstmal angekommen.
Mit dem zweiten Teil beginnt eine längere Wegstrecke, denn jetzt gilt es, sich zu erheben. Schließlich symbolisiert Teil 2 den Himmel – und der ist erst mal weit weg. „Erheben“ ist aber auch wörtlich gemeint: In seiner zweiten Hälfte verlangt uns der zweite Teil sieben Kicks ab, bei denen die Arme geöffnet und das Standbein gestreckt werden (ganz oder ein bisschen, je nach Atemtyp). Eine gute Gelegenheit, den im Teil 1 gewonnenen festen Stand auf einem Bein zu erproben. Zugleich geht es, noch auf der Erde, in die Weite: Während Teil 1 nur Norden, Westen und Osten kannte, erweitert Teil 2 die Himmelsrichtungen, in welche die Bewegungen ausgeführt werden, in die Diagonalen.
Aber zunächst, immer noch in der ersten Hälfte von Teil 2, folgen Wiederholungen: das schwierige Rückwärtsgehen beim Affen vertreiben wird fünf Mal wiederholt. Dabei wird der Geist ruhiger und man schafft es, die Wiederholungen immer wacher auszuführen, ebenso wie sich der wiederholte Abschnitt aus Teil 1 (Kranich) nun schon viel präsenter anfühlt als in der „Gerade-nichtmehr-stolper-Phase“ zu Anfang. Schon fast ganz bei sich biegt man – abermals über eine wiederholte Sequenz aus Teil 1 – in die Wolkenhände ein, vier seitliche Schritte mit gleichen Armbewegungen nach links und rechts, die einen in der Ruhe ankommen lassen, wie sie vielleicht die Acht Unsterblichen gespürt haben. Sie sollen sich ja auch auf Wolken aufgehalten haben.
Doch jetzt kommen die Kicks. Da gilt es, sich zum Himmel zu erheben und das zu erreichen, was für die Chinesen überaus wichtig in allen meditativen Disziplinen war: eine direkte Verbindung von Erde und Himmel. Am besten lässt sie sich auf einem Bein herstellen. Auch muss sie jedes Mal neu aufgebaut werden. Was gestern war, gilt nicht mehr. Aber jetzt ist man wach und gespannt genug, das Wackeln in Kauf zu nehmen und den sicheren Stand bewusst anzugehen. Sind die sieben Kicks am Ende von Teil 2 geschafft, ist man bei sich angekommen. Jetzt haben die Alphawellen, das „Tor zur Meditation“, in unserem Gehirn ihre Aktivität erhöht. Die Gedanken, die am Anfang der Form noch diffus vorhanden waren, sind zwar weiterhin da, aber auf unbeschreibliche Art gelichtet und nicht mehr so bedrängend. Metaphorisch ausgedrückt: wie Wolken vor heiterem Himmel. Insgesamt sind vielleicht 15 bis 18 Minuten vergangen und der Körper hat den anstrengendsten Teil der Form bewältigt.
Nun biegt man in den dritten Teil der Form ein, der für den Menschen steht. In seiner Zusammensetzung enthält er Figuren aus Teil 1 und 2, konkretisiert also die Auffassung, dass der Mensch die Verbindung von Erde und Himmel verkörpert. Nur fünf Blöcke neuer Figuren kommen in Teil 3 noch vor, der Rest wiederholt. Der Anfang verläuft analog zu Teil 2, aber jetzt ist schon ein anderer Zugang angesagt: größere Wachheit, die im Folgenden noch weiter ansteigen wird. Jetzt sind Raum und Sensibilität gewachsen, die es erlauben, ja: erfordern, die eigenen Bewegungen zu spüren. Vielleicht tauchen Themen aus dem Unterricht auf und wollen beachtet werden: nicht mehr nur das Finden des eigenen Standes wie in Teil 1 und das Ausgreifen in die Weite wie in Teil 2, sondern nun das Zu-Sich-Kommen zwischen Himmel und Erde. Vielleicht will dabei die Ausrichtung der eigenen Körperhaltung und Bewegungen in diesem Spannungsfeld erspürt und geübt werden. Der Mensch kann die Aufgabe, die auf ihn wartet, angehen – nicht nur im Taiji.
So hält die Übung der Taiji-Form, 20-25 Minuten lang, jedes Mal die drei Schätze bereit: nämlich Erde und Himmel auszuloten und der eigenen Befindlichkeit darin gewahr zu werden. So gelingt es jeden Tag ein Stückchen mehr, uns selbst und unsere Lebensaufgaben zu beherrschen, sprich: das eigene Menschsein zu gestalten. Der Alltag kann kommen.