Was ist sicher in meinem Leben? Mein Job? Meine Gesundheit? Meine Beziehung? Meine Identität? Sicher ist doch eigentlich nur eins: mein Tod. Die Lebensreise zur „sicheren Landung“ verläuft heute, so scheint es, unruhiger als je zuvor. Die Unsicherheit, die ohnehin zu unserem Leben gehört, wird durch den gesellschaftlichen Wandel und die Allgegenwart des Terrorismus – zumindest gefühlt – verstärkt wie nie zuvor. Das hat mir heute eine Schlagzeile vor Augen geführt: „Die Weltunordnung macht Angst.“
Unser Geist muss immer lernen, mit Veränderungen zu leben, sie anzunehmen und das eigene Leben daran anzupassen. Zu stark ist der Wille, das, was erreicht wurde, auf ewig und immer festzuhalten oder ein einmal gesetztes Ziel auch ganz bestimmt zu erreichen. Gibt es eine Differenz zwischen Realität und Wunschdenken, so nehmen wir diese als schmerzlich wahr. Meist führt dieser Schmerz nicht zur Öffnung für den Wandel, sondern in die Suche nach Krücken: Ideologien, Dogmen, Glaubenssysteme, Rechtfertigungen, Sündenböcke. Sie sollen das verwirrte Selbst stützen.
Was uns die daoistische Philosophie lehren kann, ist: mit dem Wandel zu gehen. Denn der Wandel ist das einzig Beständige außer dem Tod, der ja von den Religionen auch als Übergang – Wandel – von einer Existenzform in eine andere verstanden wird. Wie geht das praktisch? Und zwar ohne dass die Annahme des Wandels eine fatalistische Demut hervorruft, die uns der eigenen Tatkraft beraubt?
In dem alten chinesischen Weisheitsbuch Yijing (I Ging), dem „Buch der Wandlungen“, findet man durch bestimmte Methoden ein „Hexagramm“, das die eigene Lebens-Situation beschreibt. Es hält auch Hinweise bereit, welches Handeln gerade förderlich ist und welches nicht. Es gibt 64 Hexagramme, zusammengesetzt aus der möglichen Kombination von durchbrochenen (Yin-) und durchgezogenen (Yang-) Strichen. Sie zeigen die augenblickliche Situation, allerdings im Augenblick des Wandels und nicht als festgeschriebene ewige Bestandsaufnahme. Entscheidend ist, wo sich eine Linie im Hexagramm in ihr Gegenteil wandelt.
Als Mittel, um den Wandel praktisch einzuüben, empfiehlt sich das Taiji . Der Ablauf der Bewegungen, die „Form“, ist ein Wechsel von Yin- und Yang-Bewegungen, und entscheidend ist jeweils der Punkt, an dem die eine in die andere übergeht. Es gibt ein paar Bücher, die sich mit Taiji und seiner Beziehung zum Yijing beschäftigen (oder umgekehrt), aber die sehen ihr Ziel darin, bestimmten Hexagrammen bestimmte Einzelformen des Taiji zuzuordnen: Das führt nicht wirklich weiter.
Für viel wertvoller halte ich die Erfahrung des Wechsels (oder Wandels) von Yin in Yang und umgekehrt, weil dieser in unserer Form ungefähr 200-mal in einem Durchlauf vollzogen werden kann. Da ja im Taiji, wenn es richtig verstanden wird, immer der Geist die Bewegungen führt, üben wir damit als Person die Fähigkeit, uns zu wandeln, ein. Mit der Zeit wird es uns dadurch auch gelingen, in unserem wechselhaften Alltag besser zu bestehen.
Das kann natürlich nur geschehen, wenn das Taiji, das wir üben, auch den Wechsel von Yin und Yang als „konkretes Ereignis“ kennt und berücksichtigt. (Taiji als pseudo-esoterisches Über-Allem-Schweben hat die Lehre von Ying und Yang vielleicht als „Überbau“ parat, aber nicht als strukturbildendes Element, das dem Taiji als „Wandlungs-Tool“ seinen Wert verleihen kann.)
Wie wichtig das ist, erkennen wir am Vergleich mit sportlichen Leistungen, bei denen der körperliche Ablauf darauf ausgelegt ist, ein bestimmtes Ziel zu erreichen – sei es der möglichst schnelle Lauf gegen die Uhr oder eine optimale Weite in Sprung-oder Wurfdisziplinen: Der Körper wird eingesetzt, ein bestimmtes, messbares Ziel zu erreichen. Alle seine organischen Möglichkeiten werden diesem Ziel untergeordnet, oft ohne Rücksicht auf gesundheitliche Schäden. Und wie schädlich ein Leben ist das alles dem Erreichen eines Ziels unterordnet, zeigen die gesundheitlichen Probleme, die sich viele durch einen „Burnout“ einhandeln.
Was sich darin abbildet, ist das eschatologische Verständnis des Lebens in unserer christlich-jüdischen Kultur: Das Leben hat ein Ziel, Welt und Geschichte kommen irgendwann an ein Ende, und unser Leben ist eine lineare Bewegung auf dieses Ziel hin. In der alten chinesischen Philosophie war die Auffassung des Lebens hingegen eine zyklische: Es gibt kein lineares Fortschreiten, sondern ein Umkreisen des Zentrums und die Rückkehr zum Ursprung. Deswegen kehrt man im Taiji am Ende der Form auch zu seinem Ausgangspunkt zurück. Entwicklung geschieht durch den Wandel dabei.
Wie also die eigene Lebensreise gestalten? Ich schlage vor, dass wir lernen, den Wandel zu erkennen und anzunehmen. Heraklit, der griechische Philosoph aus dem fünften vorchristlichen Jahrhundert, dessen Denken viel Ähnlichkeiten mit dem Daoismus aufweist, wird der Satz „Alles fließt“ zugeschrieben. Er hat auch den Satz geprägt, dass niemand zweimal in den selben Fluss steige. Schließlich hat sich das Wasser inzwischen gewandelt, denn es ist davon geflossen. Aber das Flussbett – der Boden, auf dem man steht – ändert sich viel langsamer. Wenn wir also zu spüren lernen, wie uns der Boden, umströmt vom Wasser, trotzdem trägt, können wir Sicherheit und Beständigkeit erfahren. Und genau das geschieht im Taiji: Wir können lernen, „mitzuschwimmen“ im Strom der Zeit, aber mit festem Grund unter den Füßen.
In diesem Sinne: eine ruhige Reise. Die sichere Landung kommt von allein.
Frieder Anders