Eine Frage, die man sich sowohl beim Lieben, beim Schenken als auch beim Taiji stellen kann und sollte, lautet: Woher kommt eigentlich mein Impuls, etwas zu tun? Was ist zuerst da: Die Handlung, der Wille oder die Bereitschaft?
Um zu veranschaulichen, was ich meine, will ich zunächst etwas ausholen und eine Begebenheit erzählen, die nunmehr fast 50 Jahre zurück liegt. Damals, mit Mitte 20, machte ich in der New Yorker Theatergruppe ›poor theatre company‹ einschneidende Erfahrungen, die mich prägen sollten. Bei der Probenarbeit übten wir, den entscheidenden ›Impuls‹ für eine Bewegung oder Handlung zu finden. Dieser sollte spontan auftauchen, indem man sich auf die gestellte Aufgabe konzentriert, und die Handlung wie von selbst in Gang bringen. Das ist eine schwierige Übung, sind wir es doch gewohnt, Aufgaben mit dem Willen anzugehen, also etwas ›zu machen‹.
Beispielsweise sollte ich in einer Improvisation zum Baum werden: aus der liegenden Position mich als ein wachsender Baum erheben. Alle Versuche, das irgendwie zu ›machen‹, fühlten sich schal und unbefriedigend an, weil sie nur vorhandene Klischeevorstellungen wiedergaben. Anders ausgedrückt: Da war kein ›Impuls‹. Oder falls doch einer da war wurde er vom Willen blockiert, der etwas erreichen wollte.
Erschöpft gab ich schließlich die Versuche auf, willentlich zum Erfolg zu kommen. Und genau da geschah es plötzlich: Etwas ergriff mich und trug mich nach oben, zur aufrechten Haltung, mit ausgebreiteten Armen, laut singend. Fasziniert nahm ich wahr, wie ›der Baum in mir‹ mich auf einmal wachsen ließ. Völlig ohne mein Zutun. Entscheidend war, dass ich mich bei aller Faszination in diesem tranceartigen Zustand nicht verlor. Schließlich war die Vorgabe der Theaterarbeit, alles bei wacher Bewusstheit zu erleben und zu registrieren, damit das Gefundene auf der Bühne reproduzierbar ist. Ich nenne diesen Zustand eine ›wissende Ekstase‹.
Dieses Erlebnis lässt sich auch neurowissenschaftlich begründen und einordnen: Die Neurowissenschaftler Hans Helmut Kornhuber und Lüder Deecke führten 1965 den Begriff des ›Bereitschaftspotentials» ein (der übrigens in den anglo-amerikanischen Sprachgebrauch übernommen wurde, wie z.B. ›Kindergarten‹). Dieses Bereitschaftspotenzial beschreibt den unbewussten Impuls, den ich in New York kennenlernen durfte. Es ist »ein elektrophysiologisch messbares Phänomen, das kurz vor willkürlichen Bewegungen in bestimmten Arealen der Großhirnrinde (im supplementärmotorischen Cortex) auftritt und als Ausdruck von Aktivierungs- und Vorbereitungsprozessen interpretiert wird« (Wikipedia). Es geht nicht nur der Handlung, sondern auch dem Willen zur Handlung voraus. Manchmal nur um Millisekunden. (Buchempfehlung: Wolfgang Achtner, Willensfreiheit in Theologie und Neurowissenschaften : Ein historisch systematischer Wegweiser, WBG 2010)
Bevor ich zum Fest der Liebe komme, will ich zunächst klären, was das mit Taiji zu tun hat. Natürlich sehr viel.
Wenn wir in Partnerübungen und im Test der Inneren Kraft unser Gegenüber zu entwurzeln versuchen, so geht es uns zunächst wie auch mir bei der Aufgabe, den Baum darzustellen. Im Willen, den anderen zu bewegen, wenden wir äußere Kraft an. Das führt dazu, dass geschoben und gedrückt wird, unter Einsatz willkürlicher Muskelanspannung und/oder Körpergewicht. Jemand so ›aus dem Weg zu räumen‹, ist kein inneres Taiji. Das Gegenüber fühlt sich auch unwohl, denn Herumgeschubstwerden macht keinen Spaß.
Diese Art des Krafteinsatzes wird vom Willen gelenkt, vom Ego. Bereitschaftspotenzial und Handlung werden nicht unterschieden. Im Inneren Taiji üben wir, den Impuls zur Bewegung von ihrer Ausführung zu trennen. Das Bereitschaftspotenzial entsteht durch die Konzentration auf die Aufgabe, jemanden zu bewegen. Es wird NICHT in eine gelenkte Aktion überführt. Vielmehr besteht die Möglichkeit, NEIN zu sagen. (Wer Benjamin Libet und die nach ihm benannten Experimente 1979 kennt, sei hier daran erinnert.)
Und dieses NEIN, dieses eingelegte Veto unterbindet die äußere Kraft. So kann die Innere Kraft entstehen, die im Inneren Taiji NUR durch den Körpertonus hervorgerufen wird. Dieser entsteht allein durch das Bereitschaftspotenzial und bedarf keiner willkürlichen Muskelanspannung. Wer es in der Praxis erlebt hat, kann das Bereitschaftspotenzial spüren, wie es sich in dem Satz des Inneren Taiji ›Yi-Qi-Jin‹ ausdrückt: »Der Geist führt, Körper und Qi folgen, und es entsteht die wesentliche, die innere Kraft.«
Nun will ich noch den Bogen zur Liebe spannen, die jetzt, in der Vorweihnachtszeit wieder Hochkonjunktur hat. Wie auch immer Liebe zu definieren ist, ich glaube sie manchmal zu erfahren. Leichter zu sagen, was sie nicht ist: das Zuschütten des Gegenübers mit Liebesbeweisen. Zu Weihnachten treten sie geballt als Geschenke auf. Auch hier wäre die Übung, den eigenen ›Liebes-Impulsen‹ mit der Möglichkeit des Vetos gegenüberzutreten. Den Impuls zu spüren, ihn aber nicht willentlich in handeln umzusetzen. Analog zur falsch verstandenen Taiji-Partnerübung würde man so vermeiden, den/ die andere/n zu bedrängen. So könnten wir äußere von inneren Werten, äußere von innerer Kraft unterscheiden. Das Bereitschaftspotenzial würde dann bedeuten, anderen mit Distanz und Respekt – oder wie es aktuell jetzt heißt, ›Wertschätzung‹ – zu begegnen und die entsprechende Haltung einzunehmen. Bereitschaft zur Liebe, ohne sie willentlich ›tun‹ zu müssen. Wäre das nicht der bessere Liebesbeweis?
In China sagt man: »Wenn du im Zweifel bist, ob du etwas schenken sollst oder nicht, dann unterlasse es besser.« In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine distanzierte Weihnachtszeit mit der Fähigkeit, Ihr Veto einzulegen. Ich wünsche Ihnen, dass Sie nicht auf die jahreszeitlich verordnete ›Liebe‹ hereinfallen, die in Wahrheit nur Sentimentalität und Kommerz befördern soll. Und bei aller Distanz wünsche ich Ihnen zugleich die Bereitschaft, echte Liebe geschehen zu lassen. Das, was man besser spüren als definieren kann, und das sich einstellt, wenn man aufhört, es tun zu wollen.