Die eigenen Anlagen entwickeln

31. Januar 2016 | Frieder Anders | Die eigenen Anlagen entwickeln

Jetzt sind es schon über 10 Jahre, dass wir in der Taiji Akademie mit den Atemtypen arbeiten, also die Bewegungsabläufe und Stellungen in zwei Varianten praktizieren und unterrichten.

Zur Erinnerung: Es gibt Menschen, die ihre Kraft beim Ausatmen gewinnen, das sind die so genannten Ausatmer – und natürlich auch -atmerinnen. Die anderen schöpfen Kraft beim Einatmen, man nennt sie deswegen Einatmer/innen. Woher kommt dieser Unterschied? Offenbar spielt der Stand von Sonne und Mond zum Zeitpunkt der Geburt eine entscheidende Rolle. Da sich das mit unserer politisch korrekten Wissenschaft nicht beweisen lässt, soll es auch hier nicht vertieft werden; auf jeden Fall stimmt es immer.

Das Spannende am Atemtyp ist, dass er den Körper prägt, insbesondere die Körperhaltung und -bewegung. Wenn das Ausatmen die starke Phase der Atmung eines Menschen ist (er oder sie braucht es gar nicht zu merken), wird der Körper von der abwärts gerichteten Ausatemmuskulatur geprägt. Folglich stehen Ausatmer/innen im Taiji leicht nach vorn geneigt. Einatmer/innen werden dagegen vom aufsteigenden Einatem als ihrer starken Phase getragen. Sie stehen aufrecht. Das ist auch ohne Wissenschaft nachvollziehbar. Wer es einmal gespürt hat, weiß: Gemäß dem eigenen Atemtyp zu stehen, fühlt sich „richtig“ an.

Wenn man eine Weile gelernt hat, den eigenen Atemtyp zu spüren und ihm zu folgen, kann man auch den Atemtyp anderer Menschen erkennen, sozusagen das eigene – oder dem eigenen entgegengesetzte – Abbild im Gegenüber entdecken. Beides ist nicht immer einfach, weil der Atemtyp auch überformt sein kann durch „falschen“ Gebrauch des Körpers resp. der Atmung. Wer zum Beispiel als Einatmer im Fitnessstudio während der Kraftausübungen ausatmet, sieht nach einiger Zeit dann eben aus wie ein Ausatmer. „Richtig“ ist das dennoch nicht.
Es gibt allerdings auch Menschen, die ihren Atemtyp in seiner spezifischen Eigenart ganz von selbst auf den Punkt gebracht haben. Manch ein darstellender Künstler hat so seine Meisterschaft gewonnen, teilweise ohne es zu wissen. Solche Menschen zu beobachten und zu studieren, führt die Unterschiede plastisch vor Augen.

Ein Musterbeispiel für einen Einatmer ist Charlie Chaplin. Die Figur des Tramps, die er geschaffen hat, führt alle Eigenarten des Einatmers ganz deutlich vor Augen. Der Watschelgang auf den Fersen, der den Körper bolzengerade aufrecht trägt, wirkt bei Chaplin völlig authentisch und stimmig. Einatmer/innen stehen und bewegen sich fersenbetont, weil ihr Rumpf auf den Knochen bzw. Gelenken ruht, um das Einatmen optimal zu ermöglichen. So gestützt, kann er sich dann auch nach hinten beugen, ohne in ein Hohlkreuz zu geraten. Eine derartige Haltung zu entwickeln und damit zu überzeugen, wäre für einen Ausatmer völlig undenkbar.
Ausatmer/innen hingegen stehen mehr auf den Ballen, weil ihre Beckenhaltung leicht gekippt ist, um die Hüftgelenke von der stützenden Funktion zu entlasten. Sie stehen gewissermaßen auf den Muskeln, während der Rumpf sozusagen auf den Oberschenkeln hängt, um das Ausatmen zu optimieren. Ein genialer Ausatmer-Darsteller war Jacques Tati, erst Pantomime, dann Komiker. Leider sind seine Filme bei uns nicht so bekannt wie die Chaplins, aber von Kennern wird er diesem als kongenial zur Seite gestellt. Seine Figur des „Monsieur Hulot“ zeigt alle Ausatmermerkmale: Der Gang fast nur auf den Ballen. Die Fallbewegung beim Gehen wird federnd abgefangen, der Körper dabei leicht nach vorn geneigt, was in der Silhouette durch die Pfeife noch betont wird.

Ich glaube nicht, dass beide, Chaplin und Tati, ein Bewusstsein von ihrem Atemtyp hatten. Aber sie haben dessen Anlagen intuitiv herausgearbeitet bzw. sind ihm bei ihrer künstlerischen Arbeit, eine stimmige Figur zu erschaffen, mit ihrem offenbar ausgeprägten Spürbewusstsein unbewusst gefolgt. Und die befreiende und faszinierende Wirkung, die beide Figuren auf den Betrachter ausüben – ihre Einmaligkeit – hat ihren tiefen Grund in der Verwirklichung des eigenen Atemtyps. Sie haben ihr eingeborenes Königtum verwirklicht.
Es gibt einen kurzen Film, in dem Schauspieler oder Möchtegern-Schauspieler bei dem Versuch zu sehen sind, den Gang von Chaplin nachzuahmen. Lustig anzuschauen, aber das war's dann auch. Chaplin-Imitatoren hat es viele gegeben. Will man wirklich in jemandes Rolle schlüpfen, sollte der Atemtyp der gleiche sein, sonst kann es nicht überzeugend gelingen.
Deutlich zeigt das der Vergleich mit der Chaplin-Darstellung des hervorragenden Schauspielers Robert Downey jr. im Film über Chaplin von 1992. Hier ist ganz klar zu sehen, wie wenig  überzeugend die Körperhaltung ist. Downey ist ein Ausatmer und bewegt sich ganz anders als Chaplin.

Hier liegt auch eine weitere Verbindung zum Taiji: Jemand nachzuahmen, um zu parodieren, ok.  Aber jemand nachzuahmen, um das Eigene zu finden: Das kann gutgehen, wenn der Zufall hilft. Tut er es nicht, so kann das ebenso gut dazu führen, dass man „meilenweit in die Irre geht“, wie es in den klassischen Taiji-Texten heißt. Mir war der Zufall wohlgesonnen mit meinem Lehrer, Meister K.H.Chu: Zu Beginn meiner Lehrzeit wussten weder er noch ich irgendetwas über die Atemtypen; ich konnte ihn aber mit Erfolg nachahmen, weil wir – dem Zufall sei Dank – beide Einatmer sind. Als Ausatmer hätte ich vermutlich einfach hingeschmissen oder wäre heute ein verkorkster Taiji-Lehrer, weit entfernt von meiner Inneren Kraft.
Das Problem sind diejenigen Meister oder Lehrer, die sich ihres Atemtyps nicht bewusst sind und alle Schüler/innen nach ihrem Bilde unterrichten. So müssen bei Meister Chu alle die Bewegungsabläufe in der Körperhaltung des Einatmer-Taiji lernen. Dabei könnte er es besser wissen, weil sein eigener Lehrer ja ein Ausatmer war und er, Chu, sich aus dessen Taiji-Ausprägung herausgelöst hat: Das ist im Grunde seine Leistung, die er aber leider zum einen selbst verkennt und zum anderen verabsolutiert. Da er nur seinen eigenen Atemtyp kennt, behauptet er, seine sei die einzig wahre Art des Taiji. Sein Lehrer, der auf Fotos und im Film deutlich erkennbar ganz anders praktiziert, habe sich mit Absicht „verstellt“.

Der Lehrer von Meister Chu, Meister Yang Shouzhong, hatte noch zwei weitere enge Schüler, und die gaben dessen Form unverändert weiter – was bei diesen kein Problem war, weil sie ebenfalls Ausatmer waren. Aus dieser Traditionslinie stammt die Version, die heute als „Snake-Style“ verkauft wird und seinen Anhängern als  das einzig wahre Taiji der Yang-Tradition gilt. Und die Adepten streiten sich um die allein seligmachende Wahrheit, als hätte es Lessings Ringparabel nie gegeben. Mehr dazu im Artikel http://www.taijiakademie.de/atemtyptaiji

Wahr ist: Nur im eigenen Atemtyp ist es möglich, die eigenen Anlagen zu entwickeln. Man stelle sich vor, Tati hätte bei Chaplin gelernt oder umgekehrt. Was wären da wohl für vermurkste Figuren entstanden?
Wahr ist ebenfalls: Nur wer sich selbst erkennt, vermag auch die anderen zu erkennen.
Für alle, die unterrichten, gilt: Erkennt diese Wahrheiten an und seid so weise, das, was vielleicht für Euch selber stimmt, anderen nicht als allein seligmachend überzustülpen.