Wer weiß, spricht nicht - oder doch?

04. Januar 2016 | Frieder Anders | Wer weiß, spricht nicht - oder doch?

    Manchmal braucht es Jahrhunderte, um alte Denker zu verstehen. So auch den chinesischen Philosophen und Schriftsteller Zhuangzi.

Zhuāngzǐ (um 365 – 290 v.Ch.) bedeutet „Meister Zhuang“. Sein persönlicher Name war Zhuāng Zhōu.

    Das Werk, das der Autor in Teilen verfasst hat, heißt„Zhuangzi“. Im Zuge der Verehrung Zhuang Zhous als daoistischen Heiligen bekam es im Jahre 742 unter Kaiser Xuanzog den Ehrentitel „Das wahre Buch vom südlichen Blütenland“ (Nan Hua Zhen Jing). Das Zhuangzi gilt als Weltliteratur, gleichermaßen von Tiefgang und von großem literarischen Wert. Sein Autor wird dem philosophischen Daoismus zugerechnet, als dessen anderer Hauptvertreter Laozi gilt.

    Der (philosophische) Daoismus ist dadurch gekennzeichnet, dass er die innere und die äußere Wirklichkeit gleichermaßen zu erfassen versuchte. So beeinflusste er den „Meditationsbuddhismus“ (chinesisch Chan, japanisch Zen) und trug entscheidend zum altchinesischen vorwissenschaftlichen Verständnis der Natur bei:
„Wo immer man im klassischen China deshalb Ansätze zur Naturwissenschaft findet, waren die Taoisten mit Sicherheit daran beteiligt…Sie arbeiteten auf allen möglichen Gebieten, zeichneten den Lauf der Sterne auf, sagten das Wetter voraus, waren Agrarwissenschaftler und Kräuterkundige, Bewässerer und Brückenbauer, Architekten und Innenarchitekten, doch vor allem Alchimisten.“ (Needham, Joseph: Wissenschaftlicher Universalismus. Frankfurt a.M. 1979, S.318)

    Manchmal braucht es Jahrhunderte, um alte Denker zu verstehen. Hinzu kommt das Übersetzungsproblem: Texte, die von inneren Erfahrungen Kunde geben, können nur in dem Maß verstanden werden, in welchem die Lesenden über gleiche oder ähnliche Erfahrungen verfügen. Andernfalls bleiben sie abstrakte Lektüre, die allerdings sehr anregend wirken kann. Umso mehr steht und fällt ein übersetzter Text mit dem Verständnis des Übersetzers/der Übersetzerin. Sachverhalte fern vom eigenen Erfahrungsschatz in eine andere Sprache zu übertragen, bringt nur Interpretationen heraus. Diese können mitunter stark vom eigentlich Gemeinten abweichen. Und dieses Schicksal ist dem weltliterarischen Zhuangzi widerfahren.

    Der schweizer Sinologe Jean Francois Billeter hat nun einen Vorschlag gemacht, das Zhuangzi vor seinen Nicht-Verstehern zu retten. Sein Werk trägt den Titel: „Das Wirken in den Dingen/ Vier Vorlesungen über das Zhuangzi“ (Berlin 2015). Billeter ist der Ansicht, in dem wichtigen Satz: „Wer weiß, spricht nicht, wer spricht, weiß nicht“ sei ein Wort falsch übersetzt worden. Dies bestätige die verbreitete, doch von ihm nicht geteilte Auffassung, das Zhuangzi sei „unergründlich für unseren modernen westlichen Blick“.

    In der bislang üblichen Übersetzung ist der Satz bedeutungslos, so Billeter: „Genau besehen ergibt die übliche Übersetzung keinen Sinn [...] der Spruch, wie er üblicherweise verstanden wird, ist absurd oder besagt, dass das Wissen seinem Wesen nach entweder geheim oder unaussprechlich sei. Ich schließe daraus, dass der Satz falsch wiedergegeben wurde.“ Er übersetzt das Wort zhi nicht mit wissen, sondern mit wahrnehmen. Bei ihm liest sich der Satz nun: „Wenn man wahrnimmt, spricht man nicht, wenn man spricht, nimmt man nicht wahr.“

    Weggeblasen der mystische Nebel, angelangt im Heute. Diese Übersetzung transportiert die Botschaft erfolgreich in unsere Welt. Wie wahr und wie lebensrelevant diese Botschaft ist, zeigt ein Artikel auf web.de, entdeckt im Internet am 09. Dezember 2015):

Wer liest, hört nicht: Hirn reicht mitunter nur für eines
„Schon mal beim Lesen im Bus die Haltestellen-Ansage überhört? Warum das nicht ungewöhnlich ist, erklären britische Wissenschaftler in einer aktuellen Studie. Schuld ist demnach die begrenzte Kapazität des Gehirns.
Beim Hören und Sehen werden vermutlich die gleichen neuronalen Ressourcen genutzt, berichtet das Team im 'Journal of Neuroscience'. Benötigt ein Sinn viele Ressourcen, wird die Verarbeitung des anderen vorübergehend unterdrückt.
Die Wissenschaftler um Katharine Molloy vom University College London hatten Versuchspersonen gebeten, an einem Bildschirm Aufgaben zu lösen. Sie mussten bestimmte Buchstaben aus einer Gruppe von anderen Buchstaben heraussuchen. Zum Teil waren die Experimente ziemlich leicht, zum Teil erforderten sie viel Konzentration. Zwischendurch spielten die Forscher den Probanden Töne vor. Während des Versuchs scannten sie die Hirnaktivität per Magnetenzephalographie.
'Die Hirnscans zeigten, dass die Leute Geräusche nicht einfach ignorierten oder herausfilterten, sie hörten sie von vornherein nicht', beschreibt Maria Chait, eine der beteiligten Forscherinnen, das Ergebnis. Bei starker visueller Konzentration wurden die Geräusche schon früh in der neuronalen Verarbeitungskette unterdrückt.
Dies zeigte sich durch eine verminderte Aktivität in dem zuständigen Gehirnbereich. Auch eine zeitlich etwas später auftretende Hirnaktivität, die eine bewusste Wahrnehmung von Sinnesreizen anzeigt, war bei starker Konzentration vermindert. Das Geräusch kam also sozusagen nie im Bewusstsein der Probanden an.“

    Die Erkenntnis der Hirnscans ist ca. 2400 Jahre alt: „Wenn man wahrnimmt, spricht man nicht, wenn man spricht, nimmt man nicht wahr.“ Ich meine übrigens, dass das genauso fürs Schreiben gilt: Während ich diesen Text hier schreibe (sozusagen ihn schweigend spreche), fällt mir auf, dass ich die Musik von Bach abstellen muss. Ich kann sie nicht gleichzeitig hören, allenfalls mich von ihr berieseln lassen. Und das belegt wiederum den Wahrheitsgehalt des – richtig übersetzten – Zhuangzi-Satzes für mich, weil ich mich und meine Erfahrungen darin wiedererkenne. Vor dem Hintergrund meiner Erfahrungen leuchtet der Satz richtiggehend ein. Ja, er leuchtet in seiner Wahrheit und wabert nicht mystisch und vermeintlich unergründlich um mich herum.
Die Wahrheit, die dieser Satz ausspricht, kann in vielerlei Hinsicht verstanden werden: Man kann nicht aufnehmen und gleichzeitig abgeben, nicht gleichzeitig ein- und ausatmen. Und damit sind wir beim Taiji: Jede Bewegung bzw. Bewegungsphase nimmt entweder Energie/Atem auf oder gibt beides ab. Oder, wie wir im Unterricht sagen: Jede Bewegungsphase ist entweder Yin oder Yang. Durch das Einüben der so genannten Yin-Yang-Form entstehen „klare Verhältnisse“ im Körper, der organische Wechsel von Aufnehmen und Abgeben wird geklärt.

    Natürlich gibt es auch Erfahrungen, die nicht mit Sprache wiedergegeben werden können. Um ihre Wahrheit zu übermitteln, gibt es die Kunst. Oder auch die spirituellen Disziplinen, mit denen die erfahrene Wahrheit von „Herz zu Herz“ übermittelt wird. Diese sollten wir getrost im Bereich des Mystischen belassen, doch außerhalb dieser Bereiche sollten wir versuchen, mit allen verfügbaren Mitteln Klarheit zu gewinnen und diese anderen weiterzugeben.

In diesem Sinne: Viel Klarheit im Neuen Jahr!

PS: Wie tiefe Erfahrungen aus der Zen-Praxis sprachlich wiedergegeben werden können, ist im Vortrag von Klaus Vorpahl, autorisierter Zen-Lehrer und Taiji-Meister, am Samstag, 23.1.16, 17:30 bis 19:00, in der Taiji Akademie zu erleben: „Vom Weg nach innen“.