Spiel der Götter

27. Juni 2016 | Frieder Anders | Spiel der Götter

Nein, im Folgenden geht es nicht um das kanadische Fantasy-Epos, sondern um Fußball. 1999 wurde in Bhutan ein Spielfilm gedreht, der den Untertitel trug: „wie Buddha den Fußball entdeckte“ – eine unterhaltsame Verbindung von Fußball und Spiritualität. Als bekennender Fußballfan möchte auch ich einen spirituellen Aspekt behandeln, der vom Taiji und seinem philosophischen Hintergrund geprägt ist. Mein Untertitel lautet also: „Wie die frühen chinesischen Taiji-Meister Fußball gespielt hätten“. Sie haben in der Kampfkunst dem Geist (chinesisch Yi) die Rolle zugewiesen, den Bewegungen vorauszuschauen. Meine These: Im Fußball hätten sie es auch getan. Warum wäre das eine gute Idee? Wenn der Geist alle Bewegungen des Körpers führt, hat er eine Intention. Er ist auf einen Gegenstand oder ein Ziel ausgerichtet. Daraus entsteht die Einheit von Körper und Geist, bei der der Geist zusätzlich befreit wird. Aus dieser Einheit heraus kann er die Welt aktiv verändern.

Wir alle haben unsere Träume und Ziele, die wir verwirklichen möchten. Im täglichen Klein-Klein in den Auseinandersetzungen verlieren wir oft die Perspektive aus den Augen, weil wir uns an Widerständen reiben und versuchen, sie „aus dem Weg zu schaffen“, statt weise vorausschauend um sie herum zu gehen.

Genau das kann das Innere Taiji lehren: nicht die Kraft des Partners oder Gegners zu bekämpfen, sondern den Fokus auf ein Ziel zu lenken –  das Ziel, die gegnerische Kraft zu ignorieren.

Genau das geschieht in einem hochklassigen Fußballspiel (oder in hochklassigen Momenten eines mittelmäßigen), wenn der Kampf Mann gegen Mann plötzlich überwunden wird durch einen Pass, der „Räume öffnet“: Inspiriert vom Geist – einem plötzlichen „Geistesblitz“– eröffnet dieser Pass eine neue Perspektive, eben eine höhere, spirituelle. Sie überwindet den verbissenen Zweikampf mit dem Gegner, indem sie ihn überflüssig macht.

Genau diese Sichtweise ist jetzt, rechtzeitig zur EM, von einem ehemaligen Profi vorgestellt worden: Stefan Reinartz schlägt vor, zur Einschätzung der Stärke einer Mannschaft nicht die gewonnenen Zweikämpfe und die angekommenen Pässe zum Nebenmann zu zählen. Vielmehr werden nun die „genialen“ Pässe gezählt, die die innere, geistige Dimension des Fußballs aufscheinen lassen. Diese neue Methode heißt „packing“. Diese Möglichkeit, die Leistung von Spielern zu bewerten, ist zweifelsohne spannend. Denn sie stellt eine bisher kaum beachtete Frage: Wie viele Gegner hat ein Fußballer mit seinen Pässen "überspielt"? „Diese Gegner können ihr Tor nicht mehr verteidigen, sie sind `gepackt` und aus dem Spiel genommen“ so Reinartz auf sport.de am 20.6.2016

Die meisten Pässe, meint ein Co-Autor dieser Methode, könnten auch von seiner Oma gespielt werden, aber der geniale Pass, bei dem das ganze Stadion aufsteht, sei eben sehr selten; er ist Gegenstand der Packing-Methode. Hier regiert nicht mehr der Tunnelblick, der, nur auf den Widerstand und seine Beseitigung fixiert, hektischen Aktionismus hervorbringt. Das Spiel wird beherrscht von Yi, der intentionalen Geisteskraft, die für Übersicht und Souveränität sorgt. Das Beispiel aus den Taiji-Klassikern beschreibt es schön: „Äußerlich gleichst Du dem Adler, der über dem verfolgten Kaninchen kreist und gleich herabstößt, innerlich der Katze, die einer Maus auflauert.“

Fußball goes Taiji? Da gibt es noch mehr spannende Parallelen. Zum Beispiel ist der Einsatz der Arme in beiden Disziplinen tabu: Im Fußball untersagen ihn die Regeln, im Taiji kommen die (Arm-) Bewegungen aus der Kraft der Beine und Hüften, der isolierte Krafteinsatz der Arme soll vermieden werden. Statt dessen werden die Armbewegungen  in ein entspanntes Mit-Wirken am ganzheitlichen Körper-Einsatz verwandelt.

Insofern sind Taiji und Fußball Brüder im Geiste, weil beide das Potenzial der Führung durch den Geist nutzen. Im Taiji wird der Gegner durch Einsatz des Geistes, ohne Schmerz zu verspüren, entwurzelt. Beim Fußball werden die genialen Pässe vom Geist geführt.

Bemerkenswert scheint mir noch der gegenseitige Ausschluss von Taiji und Fußball. Welche/r Fußball-Interessierte kennt Inneres Taiji und welche/r Taiji-Praktizierende begeistert sich schon für Fußball? So schweige ich während der Zeit der EM lieber, genieße stumm die Spiele, warte auf die genialen Pässe – und freue mich sehr, falls sich doch noch Gleichgesinnte zum Fachsimpeln finden sollten.

PS „Das Stadion ist in diesem Land der einzige Ort, wo man laut die Wahrheit über das sagen kann, was man sieht". Das sagte Dmitri Schostakowitsch, der russische Komponist und Fußballfan, der nach Aussage seiner Biografin sein Leben zwischen dem politischen Zwang der Stalin-Ära und intellektueller Anstrengung ohne Fußball nicht ausgehalten hätte. Aber das ist eine andere Geschichte…