Das Yin-Yang-Symbol (chinesisch Taijitu, die chinesische Monade) gehört heutzutage schon zur Allgemeinbildung. Aus Büchern oder aus der Werbung weiß heute jeder und jede, dass damit irgendwie eine „Einheit der Gegensätze“ gemeint ist. Es gilt als Ausdruck von Harmonie. So klebt es als Klischee auf vielen Produkten, die „Wohlfühlen“ und Ausgeglichenheit versprechen, seien es Tee, Kosmetika, Massagen, Wellness, Bio-Nahrung etc., und natürlich auch Taijiquan. In dieser verkürzten Auffassung ist es zum Symbol lediglich einer Seite des menschlichen Lebens verkommen, nämlich der Ruhe und dem Stillwerden, wie sie allnächtlich an der Reihe ist. Derart missverstanden, wird dann die Bewegungskunst Taiji damit etikettiert und als sanfte Bewegung zur Entspannung (miss)verstanden.
Das Taiji-Symbol hat aber genau genommen eine viel tiefere und dynamischere Bedeutung als nur das bekannte „Wohlfühl-Klischee“. Es drückt die grundsätzliche Polarität der Gegensätze aus, die zusammen gesehen werden wollen. So wie Tag und Nacht zwar voneinander verschieden sind, aber doch ein Ganzes bilden. So wie Nord- und Südpol als zwei getrennte „Pole“ eben doch ein Teil des Ganzen, der Erde, sind und zwischen ihnen eine magnetische Feldspannung aufgebaut wird. In Wikipedia finden wir: „Tàijí oder Tai Chi (...) bezeichnet das höchste Prinzip des Kosmos. (…) In der daoistischen Tradition bezeichnet das Tàijí vor allem die Einheit der komplementären Polaritäten (sich ergänzenden Gegensätze) Yīn und Yáng“. Hier erhalten wir eine Ahnung, dass es um viel mehr geht als um bloßes Wohlfühl-Gesäusel, mit dem sich ein Wellness-Produkt an den Mann und die Frau bringen lässt.
Doch das soll genug der Philosophie sein. Ich will einen Blick auf Taiji als Bewegungskunst werfen und verdeutlichen, wie sich konkret die Einheit der Polaritäten darin wiederfindet.
Von vielen, die es heute praktizieren, wird Taiji als Alternative zu Sport und Fitness dankbar aufgenommen, weil ihnen der mechanistisch-sportliche Ansatz, den Körper zu bewegen, nicht behagt. Der Körper ist dabei das Instrument eines „Ichs“, das ihn beherrscht und nach Belieben fordern und an seine Grenzen bringen kann, bis Muskeln und Sehnen erschöpft sind und der Körper nicht mehr kann. Überspitzt gesagt, wird der Körper als Maschine betrachtet, die funktionieren muss, die optimiert, gedopt und vermessen werden kann. (Schrittzähler, Pulsmessgeräte und Trainings-Apps erleichtern dies.)
Mehr und mehr Menschen wird klar: Der Körper ist auch ein Organismus, der ein Eigenleben hat. Wer das so wahrnimmt, verweigert den Weg an die Hanteln, den Blick auf die Stoppuhr oder den Griff zum Smartphone.
Für Menschen mit so einem Bewusstsein kommt Taiji gerade recht, um dem Zwang, alle Bewegungen kontrollieren zu müssen, zu entkommen und sich dem weichen Fluss ganz anderer motorischer Abläufe hinzugeben. Das ist verständlich, erfasst aber (noch) nicht den wahren Charakter von Taiji. Natürlich kann der Körper als „Maschine“ betrachtet werden. Das ist in den letzten drei Jahrhunderten mit Erfolg geschehen und ist weiterhin Gegenstand von Wissenschaften wie der Biomechanik als Teil der Physik. Aber es ist nicht die einzige Wahrheit: Außer dem Körper, den man „hat“, gibt es noch den Körper – besser: Leib – der man „ist“, und der entzieht sich unserem bewussten Wollen, weil er unabhängig davon organisch lebt. Das menschliche Leben wird von dieser Doppelnatur, oder eben Polarität Körperhaben – Körpersein bestimmt, und wir tun gut daran, das in unseren Aktivitäten zu berücksichtigen.
Um Taiji zu erlernen, müssen wir also zweierlei lernen. Einerseits den Körper mit seiner BioMechanik zu beherrschen, andererseits dem organischen Fluss in uns Raum zu geben. Mit anderen Worten: Wir müssen den Körper materiell als festen Körper und energetisch als Behälter betrachten, in dem die Lebensenergie fließt, das Qi.
Das Wunder dabei: beim Erlernen der Bewegungsabläufe setzt man die Bewegungen quasi mechanisch zu Abläufen zusammen. Mit der Zeit entsteht daraus, durch unser Bewusstsein gelenkt, wie von selbst der organische Fluss der Bewegungen, der das Taiji so einzigartig macht. Ich kann mich dem Fluss überlassen, weil die Aufgabe, den Körper zu kontrollieren, immer mehr von meiner wachen Aufmerksamkeit übernommen wird – aber die darf nie erlahmen. Ich sollte also nicht, wenn ich die ersten Bewegungen gelernt habe, geistig abschalten und mich dem Gefühl des Flusses überlassen, womöglich unterstützt von pseudo-asiatischer Hintergrundsmusik. Nein, ich muss stets „wach“ bleiben und den Bewegungen im Geist immer ein Stück voraus sein; das ganze Taiji-Leben lang.
Man könnte sagen, dass Taiji eine doppelte, eine polare Betrachtungsweise des Körpers anlegt: als auf ein maschinenähnliches materielles Instrument, das wir steuern können, und auf energetische organische Abläufe, die wir zwar „wollen“ können, die aber ein Eigenleben entfalten. (Dieses Eigenleben sollten wir aber immer bewusst wahrnehmen und uns nicht in ihm verlieren.) Statt materiell und energetisch könnte man auch sagen: Fassbar und fühlbar.
Und damit bin ich wieder beim Yin-Yang-Symbol. Denn nur aus der Synthese beider, nur aus ihrer Polarität entsteht Taiji, das wirklich diesen Namen verdient. Weder das technische Durchdeklinieren von vielleicht richtigen Bewegungen noch das Sich-Fallen-Lassen in einen unbestimmten weichen Fluss kommen zum Ziel. Und das gilt nicht nur für Taiji als Bewegungskunst – denn jede körperliche Bewegung lebt zwischen den Polen Körperhaben und Körpersein und jede/r, der sich bewegt, kann von dem Ausgleich beider profizieren.
PS Noch eine Bemerkung zu dem Bild, das diesen Blog ziert: Es ist das Wappen, das der berühmte dänische Physiker Niels Bohr (1885-1962) für sich entworfen hat. Er hat das Komplementaritätsprinzip aufgestellt. Dieses Prinzip besagt, „dass zwei methodisch verschiedene Beobachtungen (Beschreibungen) eines Vorgangs (Phänomens) einander ausschließen, aber dennoch zusammengehören und einander ergänzen. Als Beispiel aus der Quantenmechanik dient vielfach der Sachverhalt, dass eine gleichzeitige Bestimmung von Wellen- und Teilchencharakter des Lichts nicht möglich ist, sondern je nach Versuchsanordnung die eine oder die andere Eigenschaft hervortritt. Wellen- und Teilcheneigenschaften können durch zwei verschiedene, komplementäre Beobachtungssätze (komplementäre Observablen, Welle-Teilchen-Dualismus) beschrieben werden. Bereits Bohr verallgemeinerte den Begriff Komplementarität auf fundamentale Gegensätze und Paradoxien in anderen Bereichen“. (Wikipedia)
Ob Bohr Taiji als Bewegungskunst praktizierte, ist nicht bekannt. Doch das Komplementaritätsprinzip ist aus meiner Sicht eine sehr treffende „Übersetzung“ für Taiji in die Begriffe der Physik.
Frieder Anders