Einen dicken Fisch ans Land ziehen

03. März 2016 | Frieder Anders | Einen dicken Fisch ans Land ziehen

„Das Fischnetz ist da, um Fische zu fangen. Wir wollen die Fische behalten und das Netz vergessen.“ (Zhuangzi)


Es war einmal ein Fischer, der war ein Meister seiner Kunst. Jedes Mal, wenn er aufs Meer hinausfuhr und sein Netz auswarf, gingen ihm die schönsten, dicksten Fische hinein und er und seine Familie litten nie Hunger, weil sie selbst davon essen und die übrigen auf dem Markt verkaufen konnten.

Das Geheimnis seiner Kunst lag im Knüpfen seiner Netze. Er wählte das rechte Garn, verwendete die verschiedensten Werkzeuge, jedes für seinen Zweck, und pflegte das Netz, wenn er begann, es auf See zu gebrauchen, mit der größten Sorgfalt. Jeden Abend, wenn er mit seinem Fang nach Hause zurückkehrte, untersuchte er es sorgfältig und entdeckte sofort die kleinsten Fehler, die, wenn man sie nicht gleich beseitigt, das Netz mit der Zeit unbrauchbar machen würden.

Seine Kunst, ein Netz zu knüpfen, gab er weiter an seine Söhne, aber auch an Fremdlinge, die ihn darum ersuchten, in dieser Kunst unterwiesen zu werden, und die, wenn sie fleißig waren, bald ähnliche Fertigkeiten erlangten und den Söhnen gleichgestellt waren.

So war der Tisch mit dicken Fischen immer reich gedeckt und der Handel damit blühte ebenso.

Eines Tages geschah es aber, dass der Meister nicht vom Fang zurückkehrte – das Meer verschlang ihn und mit ihm das Netz.

Nun war guter Rat teuer: Rasch musste ein neues Netz geknüpft werden! Aber wie? Die Kunstfertigkeit der Söhne und der angenommenen Brüder war fast vergessen, hatten sie doch immer nur geholfen, wenn der Meister das Netz pflegte. Aber das war lange her oder sie hatten sogar noch nie selber ein eigenes erschaffen. Sie versuchten sich zu erinnern und gaben einander Ratschläge. Weil aber die Fische immer kleiner wurden, die sie fingen, begannen sie Not zu leiden. So wurden sie bald neidisch aufeinander, wenn ein Fisch größer war als der eigene, und die gegenseitige Hilfe wandelte sich in Streit.

Der eine, der noch beim Meister selbst das Knüpfen gelernt hatte, widersprach denen, die erst später von dessen Söhnen diese Kunst erlernt hatten. Bald herrschte das bunteste Durcheinander, das man sich denken kann. Alle Netze waren verschieden, einige so schlecht geknüpft, dass damit keine großen Fische zu fangen waren – schließlich waren die großen Fische zugleich auch stark und konnten vom Netz nicht gehalten werden. So blieben nur die kleinen hängen. Und weil so lange kein großer Fisch mehr ins Netz gegangen war, vergaßen alle mit der Zeit, wie so ein Prachtexemplar überhaupt aussah, und dachten, alle Fische wären klein. Aber weil jeder sich dunkel an einen großen Fisch erinnerte oder wenigstens von solchen gehört hatte, entbrannte der Streit um die Kunst, ein Netz zu knüpfen, umso heftiger.

Ein jeder meinte, nur er besitze die wahre Kunst des Meisters. Der eine zeigte den anderen das Garn, das vielleicht so war wie das des Meisters. Der nächste triumphierte mit dem Werkzeug aus dem persönlichen Besitz des Meisters, an das er gelangt sein wollte. Und als immer noch kein großer Fisch in diese neuen Netze gehen wollte, erklärten sie kurzerhand die kleinen Fische zu großen und sagten, dass es genau so große waren, wie sie der Meister gefangen habe. Und jeder baute ihm ein Denkmal, eine stattliche Figur mit dem Bild des echten alten Netzes.  

Da standen nun die Denkmäler des Meisters am Meer und die, die sie erschaffen hatten, flickten an ihren Netzen, jeder am „einzig wahren“, das dem des Meisters gleichen sollte. Alle litten sie Not, weil sie vergessen hatten, dass es große Fische gab, die man fangen und verzehren konnte.

Vielleicht gab es aber Fischer, die die Kunst, ein Netz zu knüpfen, doch heimlich bewahrt oder neu gefunden hatten – aber das ist schon wieder ein anderes Märchen.

Der alte Meister und das Meer

Die geneigte Leserin, der geneigte Leser hat es schon geahnt: Es geht um Taiji. Speziell geht es um Yang-Stil Taiji in der Tradition von Meister Yang Chengfu (1883-1936). Alle Zeugnisse belegen: Er beherrschte die Kunst, ein Netz zu knüpfen, das einen ausgesprochen dicken Fisch an Land ziehen konnte – die Jin-Kraft, das Wesentliche des Inneren Taiji.

Yang Chengfu hatte vier Söhne, deren erster, Yang Shouzhong (1910-1985), ebenfalls Taiji konnte. Im Alter von acht bis fünfzehn Jahren war er beim Vater in die Lehre gegangen –  ein Fulltime-Job – und später begleitete er ihn auf seinen Reisen, um den Yang-Stil in China zu verbreiten. Es heißt, Yang Chengfu habe „an die 10.000“ Schüler gehabt. Und hier beginnt der Streit: Alle, die irgendwann bei ihm gelernt haben, berufen sich auf ihn und beanspruchen, sie seien ihm ebenbürtig  im Fischefangen. Dies entspricht der chinesischen Auffassung von Tradition.

Denselben Anspruch erheben auch die drei späteren Söhne des Yang-Chengfu. Sie wurden um 1930 von dessen zweiter Frau geboren und gelten heute in China als Gralshüter der Tradition. Dabei konnten sie so gut wie nichts vom Vater lernen, als Kleinkinder, die sie bei seinem Tod 1936 noch waren. Scheinbar konnten sie mit seiner Art Netz umgehen, auch wenn sie nie richtig gelernt haben, wie es geknüpft sein muss, um  große Fische zu fangen. Die Videos, die es von ihnen gibt, zeigen deutlich, dass keiner von ihnen über die Jin-Kraft oder Innere Kraft verfügt.

Yang Shouzhong hingegen, 1949 nach Hongkong emigriert, verfügte darüber – was leider nicht letztgültig nachprüfbar ist, weil er öffentlichkeitsscheu war und nur ein einziger Film von ihm auf youtube steht. Aber ich bin sicher, weil mein Lehrer K.H.Chu als Meisterschüler bei ihm gelernt hatte und mir viel von der Inneren Kraft Yang Shouzhongs erzählt hat.

Der Weg K.H.Chus zu seiner eigenen Inneren Kraft dauerte allerdings noch länger und wurde erst nach dem Tod seines Lehrers (1985) vollendet: Weil er Einatmer war und Einatmer in ihrer natürlichen Position lotrecht stehen, musste er das Gelernte seinem Atemtyp entsprechend sich anverwandeln. Yang Shouzhong stand hingegen nach vorn geneigt, was für seinen Atemtyp als Ausatmer passend ist, um die Innere Kraft zu entwickeln. Diese Körperhaltung hatte er von Yang Chengfu – ebenfalls Ausatmer – für ihn richtig gelernt. So kommt es, dass K.H.Chu heute von den Traditionalisten, die sich auf Yang Chengfu berufen, geschmäht wird, weil „seine“ Form in Haltung und Ausführung der Bewegungen vom Vorbild abweicht.

Doch damit nicht genug, die Kontroverse geht noch weiter: Chu unterrichtet ALLE seine Schüler nach seinem Einatmer-Vorbild und behauptet, seine Art, Taiji zu praktizieren wäre die einzig richtige. Auch sein Meister hätte „eigentlich“ so praktiziert – und wenn die Fotos klar das Gegenteil zeigen, liege es daran, dass dieser sich verstellt habe. Wozu? Um zu vermeiden, dass ihm die einzig wahre, aufrechte Haltung abgeschaut werden konnte. In Wirklichkeit, so meine Überzeugung, weiß Chu mittlerweile längst von den Atemtypen. Er folgt jedoch der chinesischen Grundhaltung, dass man seinem Meister nicht widersprechen darf. Ein „Vatermord“ verstieße gegen die Tradition.

Yang Shouzhong hatte noch zwei weitere Meisterschüler, die beide Ausatmer waren und somit sein Vorbild direkt kopieren konnten. Einer davon ist Chu Gin Soon. Er und K.H.Chu teilten sich den Westen untereinander auf: Chu Gin Soon (1932), der ältere, bekam die USA, K.H.Chu (1945) bekam Europa. Zunächst also friedliche Koexistenz – bis der Bostoner Chu  zum Ende des letzten Jahrhunderts seinen Sohn ins fremde Gefilde Frankreich sandte, um dort zu wildern. Da war es dann vorbei mit dem Frieden unter den beiden Chus.

Der dritte Meisterschüler, Ip Taitak (1929-2004), begann relativ spät, selbst Meisterschüler anzunehmen. So sind es nur deren zwei, die seine Variante in der Welt verbreiten: John Ding und Robert Boyd –letzterer vermarktet sein Taiji heute unter dem Label „snake style“.

Wie es um die Innere Kraft von Chu Gin Soon und Ip Taitak bestellt ist, können Sie hier sehen:

https://www.youtube.com/watch?v=WKtK-ifyasc
https://www.youtube.com/watch?v=eqo6jZBiVbA

Für mich zeigen die Videos deutlich, dass auch sie die Innere Kraft von ihrem Meister gelernt haben.

Last but not least gibt es noch die älteste Tochter von Yang Shouzhong, Yang Ma Lee. Seit einigen Jahren macht auch sie Schule unter westlichen Adepten und hat mit ihnen zusammen inzwischen auch einen Verband gegründet. Sie beansprucht, das wahrste Taiji überhaupt zu praktizieren, indem sie die Form des Vaters detailgetreu nachahmt. Ihre Grundbehauptung: Ihr Vater habe an seine drei Meisterschüler nur jeweils ein Drittel der „Geheimnisse“ weitergegeben, ihr dagegen alle. Da sind wir dann wieder beim Märchen. Und wenn sie nicht gestorben ist, hütet sie allein den Schatz der Tradition an einem geheimen Ort – denn soweit ich weiß, ist von ihr nichts im Internet zu sehen.

Bei all der Lächerlichkeit, die solchen Schilderungen innewohnt, fasse ich mir auch an die eigene Nase und gestehe: Ich war ja genauso. Mein Lehrer war der Einzige und Allerbeste und vor dreißig Jahren habe ich  noch mit meinen Mitarbeitern erbittert darüber gestritten, wie es der Meister denn wirklich gemacht hat – bis ins Detail wie die korrekte Haltung des meisterlichen kleinen Fingers. Es hat gedauert zu entdecken, dass es nicht um die äußeren Formen geht, sondern dass man sie anverwandeln und zu etwas Eigenem machen muss. Insbesondere durch das Erkennen, wie Verwurzelung sich anfühlt und funktioniert.

So konnte ich mit den Jahren dieses Niveau verlassen auf dem man Äußerlichkeiten wie kleine Fingerhaltungen vergleicht und diese daran misst, wie stark sie dem idealisierten Vorbild gleichen. Doch auf exakt diesem Niveau bewegt sich die heutige Diskussion darüber, wer im Besitz der Taiji-Wahrheit sei. Als stritte sich eine Horde Fischer darum, wie man am besten das Netz knüpft, und niemand hat im Blick, wozu das Netz da ist. Also? Wo sind die Fische? Wie steht es um die Innere Kraft?

Ich selbst habe Klarheit gewonnen durch die Erfahrung der Atemtypen. Wer sich damit auseinandersetzen möchte (in meinen Veröffentlichungen findet man genug Stoff), muss nicht auf der Traditionalisten-Ebene argumentieren, da könne nichts dran sein, weil die alten Meister nichts davon erzählt hätten. Das haben sie sehr wohl, aber eben nur indirekt, weil es das Konzept der Atemtypen in China nicht gab und nicht gibt. Doch natürlich gibt es auch dort Menschen mit zwei verschiedenen Atemtypen. Das bezeugen die Meister mit ihrer atemtypgerechten Praxis.

Den Söhnen des Fischers wünsche ich, sie könnten sich wieder auf die Fische konzentrieren, die sie eigentlich fangen wollen, sich über diesen Wunsch, über diese gemeinsame Sehnsucht austauschen und sich gegenseitig befruchten. Taiji-Praktizierenden auf der Suche nach der Inneren Kraft möchte ich ein Zitat von Basho mitgeben, dem berühmten japanischen Dichter aus einer Samurai-Familie: „Folge nicht den Fußstapfen der Meister, suche, was sie gesucht haben.“ Und schließlich will auch ich aus dem Märchen die richtigen Konsequenzen ziehen: Als Meister-Fischer bemühe ich mich, die Kunst des Netzeknüpfens nicht für mich allein zu beanspruchen, sondern stelle das, was ich gefunden habe, gern zur Verfügung. So können andere meine Erkenntnisse auf der Suche nach ihrer Inneren Kraft nutzen. Möge die Suche erfolgreich sein – für jeden und jede auf jeweils eigene Art.