It’s all in you

01. November 2016 | Frieder anders | It’s all in you

Eine Frau, mit der ich geschäftlich in Verbindung kam, schenkte mir eine Tasse mit der Aufschrift: „Its all in you“. Seitdem hallt dieser schöne Satz  in mir wider und zeigt von Zeit zu Zeit eine neue Facette seines Wahrheitsgehalts. Zum Beispiel las ich kürzlich in der WELT (25.10.2016) die faszinierende Geschichte eines Teenagers aus den USA, der nach einem Sportunfall in ein Koma fiel. Mehrere Tage später wachte er wieder auf und sprach auf einmal nicht mehr englisch, seine Muttersprache, sondern spanisch. Das Überraschende: Er hatte nie spanisch gelernt, wenn auch in seinem sozialen Umfeld gehört. Dennoch sprach er fließend. Nach knapp einer Woche hat er seine Muttersprache Englisch wieder zurückgewonnen und Spanisch fast wieder ganz verloren.

Dieses Phänomen ist als Fremdsprachen-Akzent-Syndrom (FAS) bekannt. Weltweit sind in den letzten hundert Jahren etwa 100 Fälle bekannt geworden.

Offenbar schlummern in uns Fähigkeiten, von denen wir im Wachzustand des Bewusstseins nichts wissen. Anlässe wie ein Schädel-Hirn-Trauma, ein Schlaganfall, aber auch Depressionen und emotionale Traumata können diese freilegen. Kapital schlagen lässt sich daraus wohl eher nicht: Die neue Sprachschule, die Schüler/innen traumatisiert in der Hoffnung, das richtige Hirnareal getroffen zu haben, würde wenig Zulauf finden.

Doch Scherz beiseite. Man kann diese Erkenntnis über das menschliche Gehirn durchaus nutzen. Ich bin sicher, dass Gleiches wie für Sprachkompetenz auch für die Fähigkeit zu Taiji-Bewegungen gilt. Sie sind in uns angelegt, schlummern in unserem Unterbewusstsein und müssen freigelegt werden. Nicht zufällig ist „zurück zum Ursprung“ das Motto der chinesischen Methoden der „Selbstkultivierung“ wie Meditation, Taiji oder Qigong. Im Ursprung bewegten wir uns auf eine Art, die in uns angelegt ist. So, wie wir es spontan taten, als wir gerade laufen gelernt hatten.

Diese Weisheit bedeutet, dass der Zugang zu uns und unseren Bewegungen beim Taiji nicht im ausgeklügelten Training liegt. Das Ziel der authentischen, ursprünglichen Bewegung erreichen wir nicht, indem der Körper von außen gesteuert wird, um Abläufe zu erlernen und so nach Leistung zu streben. Nein, anders herum: Alles ist schon fertig angelegt in uns und braucht nur entdeckt, freigelegt und entwickelt zu werden. Dieser Weg führt ins Innere – und zwar ohne irgendein Gehirnareal mittels Traumatisierung stillzulegen. Hier erfolgt die Aktivierung des Unbewussten sanft und verlustfrei.

Wie können wir diesen Weg nach innen beschreiten?

Im Zhuangzi, dem berühmten Werk aus dem 4. Jh v.u.Z., findet sich die Geschichte des Holzschnitzers, der einen Glockenständer schnitzte. Als sein Werk von anderen bewundert und für göttlich erachtet wurde, erzählte er, wie er den Weg nach innen ging und die Außenwelt vergaß:
„Danach ging ich in den Wald und sah mir die Bäume auf ihren natürlichen Wuchs an. Als mir der rechte Baum vor Augen kam, da stand der Glockenständer fertig vor mir, so dass ich nur noch Hand anzulegen brauchte. Hätte ich den Baum nicht gefunden, so hätte ich’s aufgegeben. Weil ich so meine Natur mit der Natur des Materials zusammenwirken ließ, deshalb halten die Leute es für ein göttliches Werk“. (Übersetzung R. Wilhelm).

Vielleicht hilft dieses Gleichnis, uns den Taiji-Weg vorzustellen. Wenn wir ihn  als „Handwerker“ beschreiten,  kultiviert Taiji den Körper und die Potenziale, die in ihm schlummern. Wir können sie freilegen, und sie werden sich immer weiter entfalten. „Nach 5 Jahren gute, nach 10 Jahren ausgezeichnete, nach 20 Jahren hervorragende Ergebnisse“ heißt es in China über Taiji.

Das Ende ist offen.„It's all in you“.