Wenn zwei gleich starke Heere sich treffen,
ist der Mann des Kummers
[der, welcher nachgibt] der Sieger. (Laozi)
Taiji – freundlich gewinnen.
Hass, Zorn und Freundlichkeit
Freundlichkeit kann man den Menschen nicht mit Härte beibringen – und sei die Härte auch noch so sparsam dosiert ... Der Versuch, den Menschen Freundlichkeit durch Maßnahmen der Härte beizubringen, ist dasselbe wie der sprichwörtliche Krieg, der die Kriege abschaffen soll. Härte ermuntert Härte; sie ermuntert niemals zur Güte ... Mit Sicherheit ist es die wesentliche ethische Botschaft des Daoismus.
(Raymond M. Smullyan)
Diese Botschaft ist auch das Grundprinzip des Taiji als eine daoistische Bewegungskunst: Härte mit Freundlichkeit zu begegnen. Wie? Durch Weichheit und Nachgeben. In der Taiji-Partnerübung dem Angriff ausweichen, ihn ablenken oder ins Leere laufen lassen, weil »das Weiche das Harte besiegt« (Laozi) – also Nachgiebigkeit praktizieren. Aber kann derartige Weichheit die Essenz der berühmtesten Kampfkunst in China gewesen sein, deren Meister die Angreifer einfach von sich abprallen lassen konnten?
Nachgiebigkeit sollte man nicht mit Selbstaufgabe verwechseln. In der vorherrschenden Ausführung von Taiji-Partnerübungen gibt man immerhin nur soweit und solange nach, bis der andere sich selbst in eine instabile Haltung manövriert hat, in der man ihn dann mit wenig Krafteinsatz zum Stolpern bringen kann. Für die Selbsterhaltung ist also gesorgt. Dennoch gibt es in dieser Art der Nachgiebigkeit Anteile der Selbstaufgabe, denn man schaltet in den Modus der Weichheit, wenn nicht gar Schlaffheit, und muss alle lebenserhaltenden Impulse, sich zu wehren, ignorieren.
Wenn mich jemand angreift, entsteht in mir, wenn ich nicht bereits scheintot bin, immer der Reflex, mich zu wehren und den anderen durch Starrheit oder Anspannung auf Abstand zu halten; dahinter lauert der Wunsch zurückzuschlagen. Und das ist meine Lebendigkeit: dass ich den Impuls habe, mich zu wehren. Unterdrücke ich diesen Wunsch, unterdrücke ich auch meine Vitalität.
Ich muss also lernen, in den Taiji-Partnerübungen meine Aggressivität zuzulassen und zu verwandeln – und nicht wegzumogeln, indem ich so tue, als sei ich nicht aggressiv, weil ich schon in den heiligen Hallen spiritueller Erfüllung angekommen bin. Denn durch das Leugnen meiner
– lebenserhaltenden – Aggressivität verwandelt sich diese schleichend in Hass und Destruktivität und sucht sich ein Ventil: z.B. in harten Kampfkünsten, wo man auf Sandsäcke oder, beim westlichen Boxen, den Übungspartner einschlagen und somit ›Dampf ablassen‹ kann. Aber im Kessel brodelt es weiter, ich habe nur vorübergehend den Druck verringert.
Wenn es durch die Praxis der Taiji-Partnerübungen gelingt, die eigene Aggressivität zu integrieren und zu verwandeln, entsteht innere Kraft, die einen Übungspartner oder Gegner auf Abstand halten kann: durch entwurzeln ohne zu verletzen. Die eigene Vitalität kann freundlich, aber bestimmt auf den anderen einwirken, und entkommt der Falle, durch Unterdrückung zu Hass und Destruktivität zu degenerieren.
Merke: Aus unterdrückter Aggressivität wird erst Wut, dann Hass und, ungezügelt, Destruktivität – alles-zerstörend, sich selbst eingeschlossen.
Aus bewusst verwandelter Wut, die immer ihren Anlass hat, wird Zorn, wenn der Anlass als berechtigt erkannt wird: Zorn wehrt sich gegen Ungerechtigkeit, die gegen mich gerichtet ist. Wut ist blind – das Wort von der ›blinden Wut‹ zeigt es – und hat kein Ziel. Zorn bekämpft die Ursachen meiner Wut (sofern sie nicht in mir selbst liegen) und hat, als ›heiliger Zorn‹, große Kraft.
Und der Zwilling des Zornes ist Freundlichkeit, die aus dieser Wandlung der Wut entsteht. Beide haben ihre Berechtigung und ihre Zeit: ist kein Anlass zu Zorn gegeben, was hindert mich, freundlich zu sein?