Nicht in den Himmel, doch zu ihm hin

01. Februar 2017 | Frieder Anders | Nicht in den Himmel, doch zu ihm hin

„Bäume wachsen nicht in den Himmel“ – dieses Sprichwort kennt wohl jeder und jede. Eine wohlfeile Erkenntnis, um jemandem die Flausen auszutreiben, er/ sie wolle zu hoch hinaus. Oder ein Trost, wenn hochfliegende Pläne gescheitert sind, weil sie sich als unrealistisch erwiesen haben. Was folgt, kann die Form von Bescheidenheit oder Resignation annehmen: Man wird es beim nächsten Mal realistischer angehen, oder aber gar nicht mehr versuchen, über den Tellerrand hinaus zu blicken.

Wenn die Bäume nicht in den Himmel wachsen, dann allerdings doch zum Himmel. Immer. Sie kommen aus der dunklen Erde und wollen hoch hinaus, zum Licht. Sie sind in der Erde verwurzelt und werden in ihr gehalten, wenn sie wachsen. Insofern verbinden sie Erde und Himmel. Manche erreichen eine kerzengerade Aufrichtung, manche müssen sich mit einer bescheideneren Form begnügen, wie die Kiefer am Meer, die den Stürmen ausgesetzt ist. Indem sie sie wahrnimmt, annimmt und sich ihnen anpasst, vermag sie trotz der Kargheit des Bodens dennoch fest in ihm verwurzelt zu bleiben.

„Verwurzelung“ – das ist ein Begriff, den wir auch im Taiji benutzen. Oft wird er falsch verstanden, wie ein anderer zentraler Begriff unserer Bewegungskunst: „Aufrichtung“. Beide gehören im Taiji zusammen: Die Aufrichtung nach oben, zum Himmel, geschieht aus der Verwurzelung in der Erde heraus, in der man gegründet ist.

Wenn ich in der ersten Kursstunde die Teilnehmer/innen bitte, sich aufrecht hinzustellen, geschieht es fast immer, dass alle sich recken: Das Brustbein wird angehoben, der Hals langgemacht, die Wirbelsäule gestreckt, die Schulterblätter nach hinten gezogen – aber selten denkt jemand an die Füße und stellt damit Verwurzelung her. Ich weise dann darauf hin, dass wir uns zu allererst bewusst machen sollten, wie wir auf dem Boden stehen und wie uns die Schwerkraft dort festhält. Das geschieht, indem wir die Knie etwas beugen und Rumpf und Kopf dabei aufrecht halten. Je nach Atemtyp sieht die Aufrichtung etwas anders aus, weil die Einatmer/innen das Becken senkrecht absenken, während die Ausatmer/innen es leicht nach vorn kippen. Ein Aufrichten ist es jedoch in beiden Fällen.

Das ist der erste Schritt zur Verwurzelung: die Schwerkraft wahrnehmen, sie annehmen und sich ihr anpassen. Der zweite Schritt, der fast zeitgleich erfolgt, ist die Aufrichtung. Physikalisch ausgedrückt, folgt man dabei dem Zug der Schwerkraft und nutzt die aufsteigende Bodenreaktionskraft, die uns den aufrechten Gang beschert. Dieses Wechselspiel von Sinken und Aufrichten zu erkennen, ist wichtig für Inneres Taiji. Schließlich sollen keine zusätzlichen willkürlichen Körperbewegungen und Muskelkräfte hinzugefügt werden, wie es die Einsteiger/innen tun, wenn sie versuchen, aufrecht zu stehen. Leider wurden die meisten Menschen ihr Leben lang genauso angewiesen, wenn es hieß: „Stellen Sie sich mal aufrecht hin!“ oder: „Sitz gerade!“

Die verwurzelte Aufrichtung ist relativ einfach zu erreichen, wenn man das Gewicht auf beide Beine gleichmäßig verteilt. Beim Qigong lernen wir das im 50/50-Stand auf beiden Beinen. Anders ist es im Verlauf der Taiji Form, in welcher das Gewicht ständig von einem Bein aufs andere verlagert wird – wie beim Gehen. Man muss also den Ausgleich zwischen Erde (Schwerkraft) und Himmel (Bodenreaktionskraft) auf einem Bein erreichen. Das braucht nun länger. Auch weil man dafür den Zusammenhang zwischen beiden Kräfte erkennen muss, um das Zusammenspiel von Unten und Oben zu verwirklichen. Zumindest im Yang-Stil.

Schaut man Bilder oder Videos von Taiji-Bewegungen anderer Stile oder Stilvarianten an, so ist meist anderes zu beobachten: Der Rumpf wird nicht wirklich auf jeweils ein Bein hin verlagert, (Einbeinstand) sondern hängt nach unten. Das Lot vom Körperschwerpunkt befindet sich in seiner Endposition also zwischen den Füßen statt auf einem zu ruhen. Dabei sind die Knie mehr oder weniger gebeugt.

Auch diese Taiji-Richtungen nehmen für sich in Anspruch, mit Verwurzelung zu arbeiten. Sie ist allerdings auf das Sinken beschränkt. Eine natürliche Aufrichtung entlang der Bodenreaktionskraft kann nur erfolgen, wenn man sich entlang einer einzigen Körperachse aufrichtet. Es ist eine Grundforderung im Taiji, das Körpergewicht am Ende einer Phase jeweils mehr auf einem Bein zu haben als auf dem anderen (um den Fehler der „Doppelgewichtigkeit“ zu vermeiden). Doch dies zu beherrschen, bedeutet eben noch lange nicht, dass man die Einheit von Rumpf- und Beinachse realisiert. Und selbst bei den Kicks, wo notwendigerweise das Gewicht ganz auf einem Bein ist (wie sonst könnte man das andere heben), ist damit noch nicht automatisch sichergestellt, dass Bein- und Rumpfachse übereinstimmen. Das Gegenteil ist durchaus möglich.

Taiji-Varianten, welche die Verwurzelung nur als Absenken des Körperschwerpunktes verstehen, verpassen die Aufrichtung im Einbeinstand. Das ist auch deswegen defizient, weil die richtige Körperstatik nicht erreicht wird, um Innere Kraft zu erreichen. Dieses Taiji ist hölzern, aber nicht im Sinne eines Baumes, der lebt und nach oben wächst. Vielleicht eher wie ein Pfahl, der zwar fest und stabil im Boden steckt, aber dort nicht lebendig und kraftvoll verwurzelt ist. Wen wundert es, dass ein Pfahl keine Blüten trägt.