Bewusstseinserweiterung

26. Juni 2017 | Frieder Anders | Bewusstseinserweiterung

Das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns;
wir müssen die Reise um die Welt machen und sehen,
ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist.
(Heinrich von Kleist)

Bewusstseinserweiterung

Im letzten Spiegel (26/2017) gab es einen Bericht, betitelt ›Das dritte Auge‹, der über eine missglückte ›Bewusstseinserweiterung‹ mithilfe von Drogenkonsum handelt; missglückt deswegen, weil in den konsumierten Drogen offenbar ein nicht deklarierter Stoff enthalten war, der denjenigen, die sie einnahmen, einen veritablen Horrortrip bescherte und die Erwartungen der Feuerwehrleute, die annahmen, es handle sich um eine Übung, weit übertrafen: »Was sind denn das für bescheuerte Komparsen« wird ein Feuerwehrmann gleich zu Beginn des Artikels zitiert. Es war aber alles ›echt‹: Ärztin, Yogalehrerin, Heilpraktiker, Homöopath – »ausgerechnet Naturheilkundler mit dem Anspruch, Kranke ohne die vermeintlich giftigen Arzneien der Pharmaindustrie zu heilen (…) konsumierten synthetisch hergestellte Drogen aus dem Chemielabor.«

Und einige Tage vorher lief, ich glaube auf Arte, ein Filmbericht über Bhagwan und seine Anhänger und ihre gemeinsame Reise, die in Indien begann und in den USA endete. Ein charismatischer, geschäftstüchtiger Guru, der die Sehnsucht nach Selbsterkenntnis und Bewusstseinserweiterung seiner zahlreichen, meist aus dem Westen stammenden, Adepten zu nutzen und zu lenken verstand. Ich selbst gehöre der Generation an, aus der sich einige in den 1970er-Jahren aufmachten, um dort Erleuchtung zu erlangen, war aber nie in Versuchung, mich anzuschließen. Ich hatte mein ›Erweckungserlebnis‹ 1970 in der New Yorker Theatergruppe, der ich etwa ein Jahr lang angehörte; ich habe darüber an anderer Stelle geschrieben (›Wie ich lernte den Drachen zu reiten‹, Theseus 2015).

Aber ich war gefährdet, diesen Weg der ›Bewusstseinserweiterung‹ zu gehen; zu groß war die regressive Sehnsucht, wieder einzutauchen in quasi paradiesische Zustände einer Mutter-Kind- oder Vater-Kind-Beziehung, die einem als Kleinkind nicht das geben konnte, was gebraucht und ersehnt wurde. Diese Sehnsucht scheint heute weiterhin groß zu sein und führt zu Drogen- und Alkoholmissbrauch oder eben zu solchen Trips, wie vom Spiegel beschrieben, von denen ich dachte, es gäbe sie eigentlich nicht mehr.

Es ist die »Überbestimmtheit durch das Bewusste«, die uns, vor allem bei entsprechenden frühkindlichen Defiziten dazu bringt, das ›ganz andere‹ in einem vermeintlichen Paradies zu suchen – in Zustände einer anderen Bewusstheit zu regredieren, in der das Ich keine Kontrolle mehr ausübt – sei es radikal, im Drogenkonsum, oder versteckt, in symbiotischen Beziehungen oder profan, in exzessiver Wellness. Aber dieser direkte Weg zurück ins Paradies kann nie gelingen, auch wenn die Sehnsucht noch so groß ist, nur die Reise um die Welt, die die Bedingungen unserer Existenz annimmt und erkennt, kann, wie es die Chinesen ausdrücken »zurück zum Ursprung« führen.

Das Problem ist, so sehe ich es, dass wir uns nicht genügend bewusst sind, dass unser Verhältnis zu uns selbst von einem Doppelaspekt beherrscht wird, nämlich, dass wir einen Körper haben, aber auch ein Körper sind. Je weniger wir diesen Aspekt in unserem Leben erkennen und berücksichtigen, desto einseitiger wird unser Leben: wir betonen den einen Aspekt und verdrängen den anderen. Wer also nur dem Modus ›Körper-Haben‹ folgt, vielleicht als Ausdauersportler oder gar Triathlet unterwegs ist, mit dem Körper als Instrument, das zu parieren und zu leisten hat, der will durch diese heftige Instrumentalisierung endlich zur Erfahrung des ›ganz anderen‹ im Flow-Erlebnis gelange, in dem die Herrschaft des kontrollierenden Bewusstseins sich wenigstens zeitweise auflöst. Und wer ganz die andere Seite des ›Körper- Seins‹ lebt, sich der Sinnlichkeit verschreibt und den Körper nur als Medium von ›Selbsterfahrung‹ begreift und ihn als dienendes Instrument ablehnt, lebt vielleicht ständig an der Schwelle zu nicht-alltäglichen, abgehobenen Erlebnissen, die er als Bewusstseinserweiterung missversteht, verfehlt aber ebenso die Erkenntnis des Doppelaspekts wie der, der sich dem Modus ›Körper-Haben‹ verschrieben hat.

›Bewusstseinserweiterung‹ geschieht als Erkenntnis des Doppelaspekts von Körper haben und Körper sein und deren Verschränkung; sie sind nicht zu trennen, und die Regression durch Drogen beispielsweise führt eben nicht zur Erweiterung, sondern zur Auflösung des Bewusstseins.

Taiji ist ein Weg, diesen Doppelaspekt unserer Körperlichkeit zu erfahren und zu erkennen: Wenn wir beginnen, es zu erlernen, sind wir bestimmt von unserem wachen Bewusstsein (›Achtsamkeit‹ wie heute so schön heißt), weil wir sonst die Bewegungen gar nicht erlernen könnten. Gut, wir könnten uns ihnen irgendwie überlassen, wenn wir sie irgendwie gelernt haben, aber das ist nicht der wahre Weg des Taiji als Mittel der Bewusstseinserweiterung. Unser ganzes Taiji-Leben wird geführt von unserem wachen Geist, der unseren Körper anleitet, aber nicht reglementiert, sondern ihm zu den vorgegebenen Bewegungen verhilft, die es zu lernen gilt. Und diese Bewegungen sind weise, weil sie uns zu Erfahrungen von uns selber bringen, die unsere Existenz als Körper-Sein, d.h. als fühlende Körper einbeziehen; plötzlich erfahren wir den Flow, dass die so streng geführten (und mühsam erlernten) Bewegungen ein Eigenleben bekommen, in dem sich die wahre Bedeutung der gelernten Formen zeigt, nämlich das Erleben einer spontanen Freiheit, die beide Aspekte unserer Körperlichkeit einbezieht: das Haben und das Sein.

Das ist ein schwierigerer Weg, als sich vollzudröhnen oder in die Regression vorbewusster Zustände abzusacken, zu der leider auch manchmal eine bestimmte Art des Taiji verlockt – aber ein Weg, so lehrt mich meine Erfahrung, der es wirklich verdient, als Weg zu sich selbst und ›Bewusstseinserweiterung‹ bezeichnet zu werden.