Nichts unter dem Himmel ist so weich und schwach
wie das Wasser,
und doch ist es von keinem, das gegen Festes und Starkes
anstürmt, zu schlagen,
weil da nichts ist, das es ersetzen könnte.
Dass das Schwache das Starke überwindet,
dass das Weiche das Harte überwindet:
Keiner unter dem Himmel weiß es nicht,
Keiner ist in der Lage, es (dem Wasser) gleichzutun.
(Laozi, Daodejing. Das Buch vom Weg und seiner Wirkung, Nr. 78 Chinesisch / Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Rainald Simon, Stuttgart 2009).
Diese bekannte Weisheit des Laozi gilt weithin als „Credo“ für das Wesen des Taiji. Zu mir gelangte sie über Karlfried Graf Dürckheim (1896-1988), der mir 1973 in seinem Zentrum im Schwarzwald Taiji nahebrachte und Weichen stellend in mein Leben wirkte. Auch Alan Watts (1915-1973) hat mich vor vielen Jahren sehr geprägt mit seinem Buch Der Lauf des Wassers. Eine Einführung in den Taoismus. Der englische Religionsphilosoph, der auch starken Einfluss auf die New Age Bewegung hatte, verband genauso wie Dürckheim westliches und östliches Denken miteinander.
Was ist es nun, was uns das Wasser über das Taiji und mithin das Leben lehren kann?
Die oben zitierte Weisheit des Laozi charakterisiert das Wesen des Taiji: Weich und fließend sollen die Bewegungen sein, unablässig dahinströmen wie ein großer Fluss. Alle Widerstände sollen sie umspielen, ihnen ausweichen und doch unbeirrt dem großen Ziel, dem Meer, entgegenstreben.
In China werden die Taiji-Bewegungen als „Schwimmen in Luft“ bezeichnet. Die sprichwörtliche Beharrlichkeit des steten Tropfens, der den Stein höhlt, gilt auch bei uns als Bild für die Ausdauer, die man beim Erlernen und Üben des Taiji entwickeln muss.
Aber das Wasser kann nicht nur weich und fließend sein. Es kann auch große Kraft entfalten, als Sturmflut oder Orkan, deren Wirkung verheerend auf das menschliche Leben sein kann.
Wie zeigt sich die große Kraft im Taiji? Bestimmt nicht als kleiner Gluckser am Rand des friedlichen Dahinplätscherns. Etwa indem man den Gegner, die Gegnerin oder Übungspartner/in in einer Partnerübung oder kämpferischen Auseinandersetzung plötzlich wegschubst. Das wäre so, als würde man einen gefüllten Wassereimer als Waffe einsetzen. Allerdings überträgt dieser nicht die Kraft des Wassers, sondern nur dessen Gewichtskraft. Er könnte genauso gut Steine in sich haben, die ihn schwer machen.
Die Innere Kraft des Taiji ist viel kraftvoller, sie ist stark und unwiderstehlich wie der Wasserstrudel oder die Welle, die einen Menschen mit sich davonträgt bzw. in sich hineinzieht.
Praktisch bedeutet das, dass wir die Innere Kraft einsetzen, um den gegnerischen Widerstand zu umgehen – zu umspielen –; es darf nie gegen diesen agiert werden. Die Form, in der die Bewegungen ausgeführt werden müssen, ist der Kreis. Genauer gesagt, sind sie spiralig, und auch bei geraden Bewegungen muss in ihnen immer das „Krumme“ enthalten sein.
Wie kann man sich das vorstellen? Leider nur schwer, weil es abstrakt bleibt, so lange man es nicht in der Praxis erfährt. Aber vielleicht kann eine Beschreibung doch etwas Klarheit verschaffen.
Wenn jemand meine Handgelenke packt, weil er mich festhalten will, werde ich mich instinktiv dagegen wehren: mit Muskelkraft, Körpergewicht, Schwungkraft und Techniken, sich herauszuwinden und so weiter. Das ist praktisch bei allen (erwachsenen) Menschen so, deren Ich voll entwickelt ist.
Was ist die Alternative? Sich dem Aggressor kampflos zu überlassen? Bestimmt nicht. Gewaltlos sich mit sich selbst befassen? Ist auch nicht der Weg des Taiji. Also tätig werden: sich in Bewegung setzen –wie das Wasser.
Wie verhalte ich mich wie Wasser? Ganz einfach: indem ich den, wenn auch aggressiven, Standpunkt des Gegners, der Gegnerin akzeptiere und die Kraft nicht direkt bekämpfe, sondern sie – zunächst – zulasse. Dann lasse ich sie oder ihn mit dem Angriff allein und „umspiele“ (oder umspüle) wie Wasser den Ort, wo die harte gegnerische Kraft auf mich wirkt. „Umspielen“ bedeutet konkret, dass ich um den Aggressor herumgehe – und wenn das nicht möglich ist, weil er mich ja festhält, muss ich mit ganz feinen Bewegungen nachgeben. Ebenso verhält sich das Wasser: Es gibt nach, wenn man hineinsteigt. Zugleich kommt es von der anderen Seite wieder und steigt an mir hervor. Es holt sich gewissermaßen den Raum zurück, aus dem ich es durch mein Eindringen verdrängt habe – und je tiefer ich in es eindringe, desto mehr „bedroht“ es mich, bis es mich schließlich verschlingen könnte.
Real lasse ich durch eine minimale Yin-Bewegung, die von außen nicht sichtbar ist, die gegnerische Kraft leer werden. Wenn sie leer ist und also der Gegner, die Gegnerin keinen physischen und psychischen Angriffspunkt mehr spürt – da ist kein Widerstand, um sich daran zu reiben– dann handle ich und wehre mich. Ich setze am schwachen Punkt seiner Kraftlosigkeit an, verwandle die Energie und werfe ihn physisch in den Raum und psychisch auf sich selbst zurück.
Mein Handeln folgt also dem „Lauf des Wassers“: Weich und schwach weiche ich zurück und bedränge, fast gleichzeitig, mit meiner reaktiven Kraft mein Gegenüber. Dadurch zwinge ich ihn oder sie, sich im unerwarteten Element zurechtzufinden; kann er/sie das nicht oder nur unvollkommen, geht der feste Stand verloren und droht das Untergehen.
Aber es ist nicht das Ziel von Taiji, jemanden untergehen zu lassen. Höchstens in dem Sinn, dass jemand seine feste, starke und scheinbar unbesiegbare Gestalt verliert, weil er nicht willens ist oder es noch nicht gelernt hat, dem Lauf des Wassers zu folgen, und so erfahren kann, was es bedeutet: „dass das Schwache das Starke überwindet.“ (Laozi).