Exkurs ins Nordische: Die Rune ing

02. November 2017 | Frieder Anders | Exkurs ins Nordische: Die Rune ing

Jetzt hat der Spätherbst begonnen – mit der Winterzeit und seinen ›dunklen‹ Gedenktagen Totensonntag und Volkstrauertag, die ihren Ursprung in der keltischen bzw. germanischen Mythologie haben. Ebenfalls aus dem nordischen Kulturkreis stammen die Runen, und eine davon soll hier angeschaut werden, die Raute.

Die Runen sind eine alte Alphabetschrift, in der jeder einzelne Buchstabe sowohl einen bedeutungsvollen Namen als auch einen bedeutsamen Klang trägt. Die Bezeichnung ›Rune‹ leitet sich von der Wurzel rún (gotisch rūna) mit der Bedeutung ›Geheimnis‹ ab. Auch die deutschen Wörter ›raunen‹ und ›Geraune‹ sind damit verwandt. Die Runen fanden in der Poesie, in Inschriften und Weissagungen Anwendung, entwickelten sich jedoch nie zu einer gesprochenen Sprache; zuletzt waren sie im Spätmittelalter in Island in Gebrauch.

Die Raute

Die Raute ist mittlerweile als die Form bekannt, die die Hände unserer Kanzlerin bevorzugt einnehmen – ob sie Kenntnis von der Bedeutung dieses Symbols hat, darf offenbleiben – und natürlich als Symbol rechter, völkischer Gesinnung, die mit der Verwendung von Runen ihre Verbundenheit zum ›Nordisch-Völkischen‹ bekunden möchte. Und wir begegnen ihr auch auf jeder Computertastatur: #

Aber, so seltsam es auch erscheinen mag, die Raute findet sich auch als wichtiges ›Formelement‹ im menschlichen Körper, wie die Arbeit an der Taiji Akademie gezeigt hat. Hier zeigt sich der geheimnisvolle Gehalt der Runen, offenbart sich gewissermaßen ihre innere Bedeutung im Unterschied zum Kanzler-Pseudo-Mudra oder rechtsextremen Symbolen.

Der Name der Raute ist Ing oder Inguz, Ing war der Gott der Fruchtbarkeit. Die spirituelle Bedeutung der Raute ist das innere Feuer.

»Ing symbolisiert den Funken der Schöpfung, die Macht, Leben zu geben und das Land fruchtbar zu machen. Das innere Feuer treibt jeden Menschen vorwärts, hin zur spirituellen Erfüllung. Es gibt uns selbst in schwierigen Zeiten Kraft. Dieses Feuer kann viele Jahre lang schlummern; doch, wenn wir es entdecken, ist es fast nicht mehr zu löschen. Ing lehrt, dass die Vergangenheit unveränderlich ist und dass wir nur die Gegenwart beeinflussen können.« (http://www.runenkunde.de/)

Setzen wir das ›innere Feuer‹ mit der Lebensenergie Qi gleich, die vom Geist geweckt –  sozusagen gezündet – wird, dann sind wir mitten im Taiji und Qigong. Und im Taiji – genauer gesagt im menschlichen Körper als konstituierendes Element – findet sich die Raute, wenn sie in Körperhaltung und -bewegung berücksichtigt wird. Dann bildet sie den ›Rahmen‹, in dem das innere Feuer entstehen und brennen kann. Insofern hat die Raute magische Qualität. Sie befindet sich auf der Rückseite des Körpers, ihr oberer Teil wird vom ›magischen Dreieck‹ gebildet.

Das magische Dreieck

Der Schultergürtel, die Arme bis zu den Ellbogen und der Kopf bilden eine Einheit, die durch ein Dreieck dargestellt wird. Die Grundlinie verläuft durch den Akupunkturpunkt Dumai 12 (›Pfeiler der Person› zwischen dem dritten und vierten Brustwirbel) bis in die Ellbogen; die Spitze des Dreiecks sitzt im Scheitel im Punkt Dumai 20 (Baihui, ›Hundert Vereinigungen‹).

magisches dreieck

Beim Üben von Taiji und Qigong muss die Brustwirbelsäule im ›Pfeiler der Person‹ angehoben, also etwas hervorgewölbt werden. Gleichzeitig müssen die Schulterblätter anliegen, so dass der Rücken sich horizontal ausdehnt und rundet. Dadurch entsteht das Gefühl, als würde der Rücken gehoben. Der Kopf muss dabei unbedingt aufrecht bleiben: das Kinn waagrecht bei den Ausatmern, und leicht angehoben bei den Einatmern. Der Scheitelpunkt strebt nach oben: bei den Ausatmern, als würde er von einer Schnur gehalten, bei den Einatmern aktiv zum Himmel. Der Nacken darf dabei nicht angespannt werden.

Das zweite der ›Zehn Grundprinzipien‹ von Meister Yang Chengfu (1883–1936) lautet: »Die Brust einziehen und den Rücken dehnen«. Gemeint ist, so zeigt es die Praxis, das Hervorwölben des Brustbeines zu verhindern, indem man den Rücken durch Anheben des ›Pfeilers der Person‹ und durch Längung der Oberarme aus dem Rücken heraus bis in die Ellbogen dehnt und so erreicht, dass die »Kraft aus der Wirbelsäule kommt«, wie es in den Klassischen Taiji-Texten heißt.

Die magische Raute

Klappt man das magischeDreieck nach unten, so trifft die Spitze auf das Mingmen, das Lebenstor, im oberen Bereich der Lendenwirbelsäule. Durch deren schaukelnde Bewegung etwas unterhalb des Mingmen wird das Zwerchfell durch Verlängerung und Verkürzung der Crura (das sind die zwei ›Pfeiler‹ mit denen das Zwerchfell an der Lendenwirbelsäule angewachsen ist) bewegt – ohne Zuhilfenahme der Atemhilfsmuskulatur – und es entsteht, nach dem Prinzip des wu wei, der ›wahre Atem‹ – der sanfte Luftzug, der das innere Feuer anfacht und erhält.

Beide Dreiecke ergänzen sich zur Raute, wie aus der Abbildung ersichtlich wird. Beachtet man deren Funktionsweise im Taiji und Qigong, schafft man den körperlichen ›Rahmen‹, in welchem der intentionale Geist das innere Feuer entzünden und Innere Kraft entstehen kann und entdeckt das Geheimnis der Rune Ing in der eigenen Person.

Taiji und Qigong sind viel mehr als einfache Wohlfühlübungen (wobei dagegen nichts einzuwenden ist, solange sie nicht darauf reduziert werden) – sie sind die Verkörperung von Symbolen, die einen tiefen Sinn haben.

Es scheint, als gäbe es noch viel zu entdecken.