Taiji und Faszien

27. Juli 2018 | Frieder Anders | Taiji und Faszien

Ich weiß jetzt, was Innere Kraft ist. Moment – gewusst habe ich es natürlich schon einige Zeit, aber ich weiß jetzt, wie man sie erklären kann.

Seit 2005, nach der Trennung von meinem langjährigen Lehrer, Meister K.H. Chu, erforschen wir in der Taiji Akademie die Rolle der Atmung in Qigong und Taiji und ihre Bedeutung bei der Entwicklung der Inneren Kraft. Schlüsselpunkte dabei sind Becken – und Rumpfhaltung und die Rolle der Ellbogen und Daumen. Die Ergebnisse erwiesen sich in der Praxis als stimmig und evident, aber es gab ein ›missing link‹ zwischen der Körperhaltung und den Qi-Meridianen, letztere erschienen zu wenig greifbar. Mein Gedanke, da müsse auch eine körperliche Dimension zwischen Bewegung und Energieverlauf sein – etwas konkret Körperliches, das diese Auswirkungen auf die Atmung hat – fand seine Bestätigung schließlich in den Faszien, mit denen ich mich in letzter Zeit zu beschäftigen begann. Sie sind das konkrete Bindeglied zwischen äußerer, physischer, und innerer, energetischer, Bewegung.

Drei Systeme

Im menschlichen Körper gibt es drei holistische (ganzheitliche) Systeme: Nervensystem, Kreislaufsystem und das Fasziensystem. Die beiden ersteren sind seit Jahrhunderten bekannt und erforscht, einen Wendepunkt dabei stellen die Werke des flämischen Chirurgen Vesalius dar, der 1543 in seinen ›Sieben Büchern über die menschliche Anatomie‹ diese Systeme abbildete. (Den Blutkreislauf entdeckte der englische Arzt William Harvey dann 1628.) Auch das Fasziennetz wurde von Vesalius dargestellt – aber nur indirekt, qua Muskulatur; den Faszien, dem ›Bindegewebe‹, widerfuhr das Schicksal, das es bis in die neueste Zeit erdulden musste: sie wurden entfernt. (Und natürlich gibt es noch ein viertes System: das Netz der Qi-Leitbahnen.)

Über die Jahrhunderte wurden die Faszien als zu vernachlässigendes „Bindegewebe“ angesehen, das der Erforschung des scheinbar wirklich Wichtigen, der Muskeln und Organe, im Wege stand und somit entfernt wurde wie die Sehnen vom Steak. Diese ›Theorie des isolierten Muskels‹ ist heute so wirksam wie damals und prägt weiterhin das westliche Verständnis von (sportlicher) Bewegung, und erst allmählich setzen sich Kenntnis und Verständnis des Fasziensystems durch.

Grapefruit und Tensegrity

 

grapefruit

 

Die Schale der Grapefruit gleicht unserer Haut, der Verbindung zwischen innen und außen. Die äußere Hülle ist unsere Lederhaut, die weiße Schicht darunter entspricht dem ›Fettanzug‹ der Oberflächenfaszie, den wir alle tragen. Schneidet man die Frucht in der Mitte durch, sieht man, dass die einzelnen Segmente durch Wände voneinander getrennt sind. Schält man die Grapefruit und löst die einzelnen Spalten heraus, wird deutlich, dass die Wände aus zwei Schichten bestehen und eine Schicht jeweils zu einer Spalte gehört. Genauso verhält es sich mit den Faszien, die zwei Muskeln trennen (›intermuskuläre Septen‹), die wie die Trennwände der Grapefruit eine starke Struktur bilden.

Diese Struktur ist, als Mikrostruktur, nach dem Tensegrity-Modell gebildet, das aber ebenso ein Bild für den Körperaufbau als Ganzes abgibt.

»Geprägt durch Kenneth Snelson und entwickelt von Buckminster Fuller nähert das Tensegrity-Modell, [das ursprünglich in der Architektur angewandt wurde F.A], sich unserem lebendigen Körper näher an als das ›Kran-Modell‹. [der Körper vom Skelett getragen, an dem die Arme wie Kabel hängen F.A.] Im Tanz von Stabilität und Mobilität der menschlichen Bewegung sind Knochen und Knorpel klare druckbeständige Gebilde, die nach außen gegen das myofasziale Netz drücken. Das Netz wiederum steht ständig unter Spannung und versucht sich, nach innen, zum Zentrum hin, zusammenzuziehen. Beide Elemente sind notwendig für die Stabilität und beide ermöglichen zweckmäßige Beweglichkeit.

In diesem neuen orthopädischen Modell ›schwimmt‹ das Knochengerüst im Meer der Spannung, die durch das Weichteilgewebe erzeugt wird. Die Position der Knochen hängt somit vom Spannungsgleichgewicht zwischen den Elementen des Weichteilgewebes ab. Dieses Modell ist sehr wichtig, um die Rolle des Weichteilgewebes bei der Bildung von Struktur zu erkennen, nämlich, dass die Ausrichtung des knöchernen Gerüsts weitgehend vom Gleichgewichtszustand des Weichteilgewebes abhängt und nicht von einem heftigen Zurückdrücken der Knochen in ›Reih und Glied‹ ihrer korrekten Ausrichtung.«

Chris Jarmey, The Concise Book of the Moving Body, S. 176 (Übersetzung F.A.)

Die Oberflächenfaszie und das Tensegrity-Modell sind Bilder, die die Prinzipien von LebenstorQigong® und Taiji am ehesten verstehen helfen: hilfreich für eine Übungspraxis, die Innere Kraft als Zusammenspiel von gegensätzlichen Spannungen sowohl im ›Weichteilbereich‹ wie auch im Funktionieren der knöchernen Struktur begreift.

Faszien in der Praxis

Auf die Praxis bezogen: Wir stabilisieren unseren Körper im Inneren Taiji und im LebenstorQigong®, indem wir ihn an bestimmten Punkten fixieren: den Füßen, den Knien, den Ellbogen, dem Kopf, das ergibt die stabile Form der Tensegrity-Struktur. In dieser stabilen Struktur pulsieren unsere Atmung, unsere Organe, eingehüllt von Faszien, denen wir versuchen, durch Ausdehnung Platz zu verschaffen, denn sie wollen ja nach innen drücken, (s.o.) Quasi so, als würden wir die etwas eingeschrumpelte Form einer Grapefruit von innen wieder in ihre runde Elastizität bringen.

In unseren Tests der Inneren Kraft widersteht dann dieser verwurzelte ›Grapefruit-Ball‹ dem Druck von außen und jeder unser Schüler/innen weiß, dass immer wieder die Aufforderung ergeht, die Muskeln dabei nicht willkürlich anzuspannen. Warum? Weil wir dann das Netzwerk unserer ›Myofaszien‹, die Einheit von Muskel und Faszie, zerstören und unsere Elastizität verlieren und stattdessen starr werden würden – wie eine Ziegelmauer, die zwar stabil ist, aber eingedrückt werden kann, wenn die Kraft dafür stark genug ist – eben weil die Mauer nicht elastisch ist. Und wenn wir Innere Kraft dazu einsetzen, einen anderen aktiv zu entwurzeln, dann ist es genau die Elastizität der Myofaszien, die das ermöglicht – denn Innere Kraft kommt aus den Faszien und nicht aus den Muskeln. Die großen Sprünge einer Antilope oder eines Kängurus sind nur dank eines ausgeklügelten Faszienmechanismus möglich, Muskeln allein könnten das nicht vollbringen. Nur machen wir in unserem Taiji nicht solche großen Sprünge, sondern nutzen diesen ›Katapulteffekt‹, den anderen zu entwurzeln, damit er unfreiwillig ›springt‹.