Unser Selbst – optimieren oder kultivieren?

01. Februar 2018 | Frieder Anders | Unser Selbst – optimieren oder kultivieren?

Worauf wir nicht in Liebe zugehen
bleibt für uns ein Land des Todes.

(Zen-Weisheit)

Selbstoptimierung ist in. Jeder, der etwas »aus sich machen« will, optimiert sich selbst, in erster Linie seinen Körper oder ›Body‹, wie man neudeutsch sagt. Gerätschaften dafür stehen zahlreich zur Verfügung, von Trainingsgeräten für Ausdauer und Kraft bis zu Messgeräten und Apps, die Feedback, Anleitung und Kontrolle geben über Puls, Blutdruck und was es sonst noch zu messen gibt.

Diese Einstellung zum eigenen Körper (und dem der anderen) ist alt, Galilei (1554–1642): formulierte es so: »Messen was messbar ist und messbar machen, was es noch nicht ist«. Die Wissenschaft, die unsere Neuzeit geformt hat prägt also immer noch unser Leben im 21. Jahrhundert. »Aufbauend auf dem Aristotelischen Entweder-Oder ist im Abendland im 17. Jahrhundert ein Denkrahmen entstanden, der unsere Gesellschaft prägt. Mit Galilei fordern wir, alles zu messen, mit Descartes alles in kleinste Teile zu zerlegen und mit Newton, überall Ursachen zu finden. Dies führt zu einem Denken, das alles durch Mechanismen zu verstehen versucht. Descartes hat die Welt in Materie (res extensa) und Geist (res cogitans) unterteilt … Zwischen Materie und Geist fehlt seit Descartes das ›Leben‹ (res vivens).« (Herbert Pietschmann, http://schwarzenberg-lectures.com/em-o-univ-prof-dr-herbert-pietschmann.)

Das Leben zwischen Materie und Geist ist Gegenstand der ›Selbstkultivierung‹. Im Gegensatz zur ›Optimierung‹ versuchen östliche Methoden, durch sie das Qi, die unsichtbare Lebensenergie, zu kultivieren, zu entwickeln und zu nutzen. ›Selbstkultivierung‹ versucht, einen Ausgleich zu finden zwischen den beiden Modi, in denen die menschliche Existenz sich abspielt: Körper haben und Körper sein.

Haben oder sein?

Wenn ich meinen Körper als einen verstehe, den ich habe, dann kann ich potenziell mit ihm machen, was ich will, schließlich gehört er mir. Ich kann ihn Zielen unterwerfen, die nicht aus ihm selbst kommen, kann ihn quälen und messen, damit er sie erreicht, und wenn er streikt, weil er verletzt oder erschöpft ist, dann kann ich ihn gesundspritzen (?) lassen, und wenn ich meinen ›inneren Schweinehund‹ (dieser Begriff kommt aus der Zeit des 1. Weltkriegs und diente dazu, die Soldaten zu disziplinieren) überwinden kann, wird er schon funktionieren. Hauptsache, er wird ›optimiert‹.

Meinen Körper, besser Leib, der ich bin, kann ich nur fühlend von innen wahrnehmen, weil seine Emotionen und Empfindungen beteiligt sind, ich kann lernen, auf ihn zu hören. Ich kann mich aber auch darin verlieren in einer ‹Nabelschau‹, die sich aus der Außenwelt ausklinkt und darauf verzichtet, in ihr zu bestehen oder sie zu verändern. Dann versinke ich in einer Innerlichkeit, die genauso beschränkt ist wie die Zielversessenheit auf die Optimierung des Körpers.

Die Kultivierung des Qi in Taiji und Qigong geschieht immer in der Verbindung von Körper haben und Körper Sein: weil es Geist und Materie verbindet und das Leben zwischen beiden, die ›res vivens‹, entdeckt.

Kultivierung des Qi

Was bedeutet das konkret? Ich laboriere seit meiner Jugend an einem schwachen rechten Sprunggelenk, das ich mir durch Fußballspielen zwar nicht ruiniert, aber geschädigt habe. Jahrelang habe ich es als ›schwach und krank‹ angesehen, und meine Einstellung zu meinem Fuß schwankte zwischen Verachtung und Mitleid: letztere machte ich zum Objekt der westlichen Medizin (die nicht viel helfen konnte) und Verachtung zwang ihm meinen Willen auf, trotz seiner Schwäche so zu funktionieren, wie ich es brauchte.

Aber Verachtung und Mitleid sind schlechte Ratgeber, weil sie den Fuß nicht annehmen, wie er ist, sondern ihn stattdessen zum Objekt einer Beurteilung machen. Mit andern Worten, ich habe meinen Fuß nicht geliebt, weil er schwach war, und deswegen blieb er immer anfällig. Erst kürzlich habe ich ihn annehmen können, so wie er ist und versuche mit Freude, ihm zu besserer Bewegung zu verhelfen. Verachtung wird von Hass angetrieben, und (Selbst-)Mitleid (von ›self-indulgence‹, wie es im Englischen heißt, was eigentlich ›Genusssucht‹ bedeutet), also die Neigung, sich selbst gehenzulassen und das eigene Elend zu genießen.

Entscheidend ist, wie ich glaube, die Annahme der eigenen Schwächen mit freudigem Herzen, und wenn wir bei unserer Selbstkultivierung im Taiji und im Qigong  der Devise folgen, dass der Geist den Körper führt, dann sollten wir nicht vergessen, dass in China bis zum 17. Jahrhundert das Herz als Sitz des Geistes galt – und nicht das Gehirn.