»Das Fischnetz ist da, um Fische zu fangen. Wir wollen die Fische behalten und das Netz vergessen.« Zhuāngzǐ
Das Zhuāngzǐ ist eins der berühmtesten Werke der Weltliteratur, auch bekannt als ›Das wahre Buch vom Südlichen Blütenland‹. Zhuāngzǐ (chinesisch 莊子 / 庄子, um 365–290 v.u.Z.) bedeutet ›Meister Zhuang‹. Sein persönlicher Name war Zhuāng Zhōu (chinesisch 莊周 / 庄周), er war ein chinesischer Philosoph und Dichter.
Nach Zhuang Zhou wird das zu Teilen von ihm verfasste Werk als ›Zhuangzi‹ bezeichnet. Zusammen mit dem Daodejing des Laozi gilt es als Hauptwerk des Daoismus. Die Schrift gilt als eine der literarisch schönsten, interessantesten und schwierigsten der chinesischen Geistesgeschichte.
In diesem Buch, über das ich bereits in einem früheren Blog geschrieben habe (Januar 2016), findet sich eine Anzahl von längeren und kürzeren Texten, wie z.B. die Geschichte vom Kampfhahn, die als Plakat im Flur der Akademie hängt, oder die Geschichte vom Koch (oder Metzger), der seinem Fürsten zeigt, wie er sein Leben zu leben habe, indem er beschreibt, wie er einen Ochsen zerteilt. Alles in diesem Buch, könnte man sagen, kann als Philosophie des Taiji gelesen werden, so auch das Zitat »Das Fischnetz ist da, um Fische zu fangen. Wir wollen die Fische behalten und das Netz vergessen«, das als Motto über diesem Blog steht. (Es leitete schon mal einen anderen Blog ein, von März 2016, der aber ein anderes Thema hatte.)
Was bedeutet das für die Praxis des Taiji – und vielleicht für unser Leben? Zuallererst geht es um eine Tätigkeit, die unser Leben erhält, indem sie uns Nahrung verschafft: Fische fangen. Dazu braucht es ein Netz. So auch im Taiji: es ist eine Tätigkeit, die unser Leben erhält, indem es unsere Lebensenergie weckt und stärkt – und das Netz dafür ist die Taiji-Form, die wir täglich ›auswerfen‹ sprich praktizieren müssen, um die ›Qi-Fische‹ zu fangen, die irgendwo in uns und im Kosmos herumschwimmen. Und wie das Fischnetz täglich instandgehalten werden muss, damit es seinen Zweck erfüllt, muss auch die Form täglich gepflegt, sprich geübt und verfeinert werden.
Aber die Korrektur und Verfeinerung des Netzes, also der Form, darf nicht zum Selbstzweck werden. Ich habe in meiner inzwischen über 40-jährigen Praxis immer wieder erlebt, dass die Übung ausschließlich auf den perfekten Zustand der Form ausgerichtet war und ihr Zweck, etwas zu ›fangen‹, aus dem Blick geriet.
Ich erinnere mich an meine Anfänge in den frühen 1980er-Jahren, als mein damaliger Lehrer Meister Chu zum ersten Mal zu einem Kurs in meine Schule kam – das Ergebnis waren nicht die Fische, die wir hätten versuchen können, zu fangen, sondern Diskussionen nach seiner Abreise darüber, wie der Meister seinen kleinen Finger gehalten hatte, denn jeder der daran Beteiligten hatte es anders in Erinnerung. Das ist die eine Gefahr beim Üben des Taiji, dass wir in der Technik hängen bleiben und uns nicht öffnen für das, was diese Technik in uns freisetzen will, nämlich den Fluss des Qi und unser ›Spürbewusstsein‹, es zu erfahren.
Die andere Gefahr ist, die Technik zu vernachlässigen, also das Netz nicht zu pflegen, es löcherig auszuwerfen in der Hoffnung, es würden schon Fische drin hängen bleiben. Das wird dann ein ›Zufalls-Fischen‹, weil es sich um die Voraussetzungen für den Erfolg nicht kümmert. Wird Taiji so ausgeführt, bleibt es an der Oberfläche und es gelingt kein Fang aus der Tiefe.
»Zwei Gefahren bedrohen die Welt« sagte der französische Schriftsteller Paul Valéry, nämlich »Ordnung und Unordnung«. Ordnung wird negativ, wenn sie um ihrer selbst willen verabsolutiert und ihr Zweck, das Organische zu strukturieren, vergessen wird (stattdessen wird es unterdrückt), und Unordnung wird zur Gefahr, wenn sie das Organische sich selbst überlässt (statt es mit klarem Geist zu lenken).
In diesem Sinn allen ›Alles Gute‹ im Neuen Jahr: die Bereitschaft, das technisch Nötige zu tun und die Offenheit für das lebendige Ergebnis, das uns nähren und beleben kann.