Ost und West begegnen sich in diesen beiden Zitaten und treffen, wie ich finde, die gleiche Aussage: Unser Dichterfürst und der berühmte japanische Haiku-Dichter Matsuo Bashō, der etwa 100 Jahre vor Goethe lebte, meinen beide: Gib Dich nicht mit Nachahmung und Kopie zufrieden, sondern mache das, was dir Lehrer und Vorbilder gegeben haben, zu Deinem Eigenen, wirksam in Deiner Gegenwart. (Basho entstammte einer Samurai-Familie, verzichtete aber auf die Laufbahn eines Kriegers und wählte das Leben eines wandernden Poeten).
In Taiji-Kreisen herrscht aber offenbar die Auffassung, nur die möglichst genaue Kopie des Vorbildes sei ›authentisch‹, individuelle Abweichungen hingegen von Übel. Da gilt die chinesische Auffassung darüber, wie ein (Kampf)-Künstler zu sein habe: Er muss dem Meister mit hundertprozentiger Genauigkeit folgen und vielleicht später, wenn er dessen Kunst beherrscht, kann er es wagen, sie den eigenen Bedürfnissen entsprechend zu verändern. (Ich habe darüber in einem früheren Blog geschrieben, November 2015.)
Dies ist eine janusköpfige Angelegenheit. Natürlich muss der Schüler dahin geführt werden, dass er sich alles aneignet, was ihm der Lehrer geben kann, damit er nicht zu früh ins Eigene abdriftet, das von seinen Vorlieben bestimmt wird und so lediglich seine subjektiven Möglichkeiten ausdrückt, also vom Ego bestimmt wird. Auf der anderen Seite kann das lebenslange Kleben am Vorbild ihn daran hindern, die eigene Individualität zu finden und zu entfalten. Genialisch (oder aufmüpfig) ist die eine Seite des Kopfes, die andere eklektisch und uninspiriert – es kommt darauf an, den richtigen Moment für die Ablösung zu finden.
Anlass zu diesem Blog sind – in meiner Abwesenheit – geäußerte Zweifel, ob meine Arbeit denn noch ›authentisch‹ sei: soviel hätte ich an dem verändert, was ich von meinem Lehrer K.H.Chu gelernt habe. Denn wenn man ihn selbst in Videos oder seine treuen Schüler mit dem vergleiche, was ich lehre, wären Zweifel angebracht. An mir, wohlgemerkt, nicht an ihnen.
Nun, ich kann die Zweifler beruhigen: ich bin 26 Jahre den Weg gegangen, alles zu erlernen, was die Essenz des Yang-Familienstils ausmacht; mit der Einführung der Atemtypen habe ich dann entdeckt, dass diese Essenz – die Entwicklung der Inneren Kraft – bei den alten Meistern und ›Vätern‹ in China in der Hochblüte des Taiji (etwa von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jh.) immer schon auf zwei verschiedenen Wegen gesucht wurde, nämlich auf denen der Atemtypen (auch wenn diese in China nicht systematisch unterschieden, sondern lediglich praktiziert wurden).
Als ich 1979 begann, von Meister Chu zu lernen und bald seinen Stil unterrichtete, warb ich dafür mit dem Slogan »Der alte authentische Yang Stil«, so übertrug ich ins Deutsche, was Meister Chu »The Original Yang Style« nannte, und versuchte, seine Bewegungen penibel nachzuahmen. Andere Schüler von Meister Chu im deutschsprachigen Raum übernahmen den Slogan wörtlich als »originaler Yang-Stil« oder, freier, als »klassischer Yang Stil«. Alle erhoben und erheben den Anspruch, das einzig wahre Überlieferte zu praktizieren und zu lehren. Aber die Geschichte der Familie Yang seit Beginn des 19. Jh. brachte zahlreiche Varianten hervor – alles ›Yang-Stil‹ – bei denen man überhaupt keine Ähnlichkeit erkennen kann und schon gar nicht weiß, wie das ausgesehen haben könnte, was der Begründer, Yang Luchan im 19. Jh., lehrte und aus dem heraus sich alles entwickelte. (Was trotzdem einige pfiffige Adepten heute nicht davon abhält zu behaupten, sie wüssten dies genau und sie als einzige würden es unterrichten.) ›Yang-Familienstil‹ ist eine weitere Bezeichnung, die Meister Chu (wie auch ich gelegentlich) verwendet, die aber nur besagt, dass die Stilvariante nicht öffentlich sondern innerhalb der Familie an die Söhne oder einen Meisterschüler weitergegeben wurde – über die Variante selbst ist damit nichts ausgesagt.
Der entscheidende Prüfstein ist immer die Beherrschung der Inneren Kraft, in allen Stilen. Wenn man sich auf einen Meister und dessen Tradition beruft und diese nicht beherrscht, dann ist die Zugehörigkeit zur Tradition Schall und Rauch. Statt zu suchen, was die Meister gesucht haben, klebt man an ihren Fußstapfen, und anstatt sich selbst das Erbe anzueignen, beruft man sich darauf, dass man irgendwann vielleicht etwas Richtiges bekommen hat, kann es aber nicht bezeugen, höchstens irgendwelche Zertifikate vorzeigen.
PS: Wer weiß denn, wie ›richtiges‹ Leben aussieht? Fast jeder, der anderen Ratschläge erteilt, privat, in den Medien, in Parteien, möchte seine eigene Erfahrung und Sicht der Dinge als absolute Wahrheit vermitteln. Gut, das sollten wir uns anhören und davon nehmen, was uns interessiert – niemand ist eine Insel –, aber danach können nur wir selbst entscheiden, wie sich unser Leben ›richtig‹ anfühlt. Und gute Lehrer helfen einem auf diesem Weg der Selbstfindung. »Der beste Lehrer ist jener, der sich nach und nach überflüssig macht«, sagt George Orwell, der Autor von ›1984‹ – weil er irgendwann seine Schüler auf ihren Weg, den sie auf ihren eigenen Füßen gehen, entlassen kann.