Taiji und Qigong entstanden aus der Suche nach Unsterblichkeit, dem Bestreben, dem Schicksal, sterben zu müssen, zu entkommen. Diese Suche prägte die chinesische Kultur in hohem Maße. Auch wenn Taiji erst seit gut 200 Jahren historisch nachweisbar ist und der Begriff ›Qigong‹ zuerst in den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts eingeführt wurde, liegen ihre Wurzeln doch weit zurück: in den Übungen der Selbstkultivierung von Körper und Geist, yang sheng und yang shen.
Viele Themen, die dem Taiji und Qigong immanent sind, werden von der zeitgenössischen Wissenschaft untersucht – oft ohne Hinweis darauf, dass die Thematik eine jahrhundertealte Tradition hat.
So berichtet ›Zeit Online‹ am 4. April 2018:
»Nicht unsterblich, aber ewig jung? Altersforscher wollen die Zellschäden, die das Alter mit sich bringt, beheben.«
Undoing aging ist das Stichwort, grob übersetzt: »das Altern ungeschehen machen«.
»Werden wir bald Hunderte von Jahren alt und bleiben dabei gesund und fit? Darüber wird gerade heftig diskutiert. Gefährlicher Unsinn sei das, sagen die einen. Längst in greifbarer Nähe sei es, die anderen. Mitten in der Debatte steckt der britische Altersforscher Aubrey de Grey. ›Es ist sehr wahrscheinlich, dass jemand, der heute geboren wird, im Schnitt 1.000 Jahre alt wird‹, sagte er erst kürzlich. Schon 2010 hatte er der Süddeutschen Zeitung gesagt, in 30 Jahren werde man das Altern unterdrücken können. Der Focus schrieb über ihn: ›Dieser Mann will uns alle unsterblich machen.‹
Vor Kurzem nun lud de Grey mit seiner SENS-Foundation zu einer Konferenz nach Berlin. Ein dürrer, großer Mann mit einem braunen Rauschebart stand da auf der Bühne und sprach über die Ziele und Pläne seiner Stiftung. Das Wort Unsterblichkeit aber kam ihm dabei kein einziges Mal über die Lippen. Genauso wenig wie den Forscherinnen und Forschern, die ihm zuhörten und auf der Undoing-Aging-Konferenz ihre Ergebnisse vorstellten […] Wie passt das zusammen? Werden wir etwa nicht unsterblich, wenn wir das Altern ungeschehen machen?«
(Quelle: https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2018-03/unsterblichkeit-altern-zellschaeden-alterungsprozess-therapien-sterben)
Nun, das Altern stoppen und unsterblich werden ist nicht das Gleiche, so die Quintessenz.Und das unterscheidet die moderne Wissenschaft vom Glauben der Chinesen, die tatsächlich das Unmögliche versuchten: physische Unsterblichkeit zu erlangen – aber auf dem Weg dahin eben jene Übungen der Selbstkultivierung Taij und Qigong entwickelten, die das Altern stoppen können.
Die Anhänger des religiösen Daoismus, die die physische Unsterblichkeit suchten, gebrauchten die Übungen der Selbstkultivierung dazu, das Leben so zu transformieren, dass es im Augenblick des Todes – oder bereits zu Lebzeiten – nicht verging, sondern in einen anderen Seinszustand übergehen konnte, nämlich den eines xian (Unsterblicher), der in die Gefilde der Seligen, auf unbesteigbare Berge, ferne Inseln oder in tiefe Höhlen unter der Erde entschweben konnte.
Ge Hong (in alter Umschrift Ko Hung) um 300 n.u.Z., ein chinesischer Daoist, Alchemist und Unsterblichkeitssucher, berichtet über eine Aussage des chinesischen »Methusalem« Pengzu (P’eng-tsu), der über hundert oder mehrere hundert Jahre alt geworden sei:
»Von den echten Unsterblichen steigen manche mit hoch aufgerichtetem Körper zu den Wolken empor und fliegen dort ohne Flügelschlag umher, manche reiten auf dem Dunst mit vorgespanntem Drachen bis hinauf an die Stufen des Himmels, manche verwandeln sich in Tiere und Vögel und durchstreifen die blauen Wolken, manche tauchen tief in die Flüsse und Meere oder flattern zu den Gipfeln berühmter Berge, manche essen die Uressenz oder verzehren das Unsterblichkeitskraut, manche verkehren unter den Menschen, ohne dass die es gewahr werden, manche verbergen sich, so dass niemand sie sieht. An ihrem Kopf wachsen merkwürdige Knochen und an ihrem Körper sprießen wundersame Haare. Sie alle lieben das Tiefsinnige und das Schlichte und lassen sich nicht ein auf das Gewöhnliche und Modische. Dieserlei Menschen ist denn auch ein ewiges Leben ohne Tod beschieden, aber sie haben [vorher] auch alle menschlichen Gefühle von sich abgetan und halten sich fern von Glanz und Freude.«
(Zit. nach Wolfgang Bauer, China und die Hoffnung auf Glück, 1971.)
Um ein Unsterblicher zu werden, musste man den Körper vor allem leicht machen: dazu dienten die Atem- und Körperübungen, Fasten, bestimmte Ernährungs- und Sexualpraktiken, die schon zu Lebzeiten viel von der Erdenschwere nehmen konnten. Am besten gelang das als Einsiedler, in Abkehr von der Welt. Einfacher war es natürlich, mit Hilfe der Alchemie ein Elixier zu finden, das man nur einzunehmen brauchte, um den Tod zu besiegen – was aber, da es sich um die giftigen Essenzen Zinnober und Quecksilber handelte, im Gegenteil den vorzeitigen Tod brachte. Ein anderer, vielleicht auch zusätzlicher Weg war der ›Verlust der Freude zur Gewinnung der Freude‹ – eine Art extremer Quietismus: alle Emotionen für eine Gleichgültigkeit aufzugeben, um eine besondere Art der Freude durch eine Art geläuterter Resignation zu erlangen, die einen bereits zu Lebzeiten sich über das Irdische erheben ließ.
Wem es schließlich gelang, zum körperlich Unsterblichen zu werden – die chinesische belletristische Literatur berichtet mit Vorliebe über Fälle, in denen es fast gelang – stieg »bei hellem Tag zum Himmel auf«, wobei er manchmal auch vorher starb; aber nur zum Schein; denn öffnete man den Sarg einige Zeit nach dem Tod, war dieser leer. In daoistischen Darstellungen sind die Unsterblichen an verschiedenen Symbolen zu erkennen, an Kranich, Kiefern, Pfirsichen, an einem knorrigen Stab, manchmal sind sie männlich, manchmal weiblich – hatten sie doch mit der Freiheit von Leben und Tod auch die Freiheit ihrer geschlechtlichen Identität gewonnen.
Die asketische Ausrichtung ist heute aus der Praxis von Taiji und Qigong weitgehend verschwunden, sozusagen im Einklang mit dem Verzicht auf die physische Unsterblichkeit. Geblieben ist aber die Vorstellung, durch deren Praxis, Leichtigkeit zu erlangen: körperliche Leichtigkeit durch die ›Verwurzelung‹, also eine besondere Anpassung an die Schwerkraft, die das Qi zirkulieren lässt, und die ›Leichtigkeit des Seins‹, die man durch Taiji und Qigong erwirbt, und die einem hilft, die Beschwerden des Älterwerdens anzunehmen und besser zu ertragen. Und es ist nicht nur eine Idee, sondern die praktische Erfahrung vieler, die sie alljährlich am ›World Taiji and Qigong Day‹ der Welt mitteilen möchten.
PS: Also deswegen ›Forever Yang‹: Undoing Aging durch Taiji und Qigong im Yang-Stil …