Taiji und Qigong: ›Bio‹ am eigenen Leibe

15. April 2020 | Frieder Anders | Taiji und Qigong: ›Bio‹ am eigenen Leibe

›Bio‹ ist in –  die Nachfrage nach Bio-Produkten steigt und steigt – kein Wunder in Zeiten der Coronakrise. ›Bio‹ meint Produkte, die auf einem anderen, nachhaltigeren Umgang mit der Natur basieren. Sie stellen die alttestamentarische Losung, sich »die Erde untertan zu machen«, in Frage, denn diese Haltung ist spätestens in den letzten Jahren, in denen der Klimawandel drastisch seine Folgen zeigt, obsolet geworden.

Der Umgang mit uns selbst, die wir auch ein Teil der Natur sind, hinkt da noch hinterher. Zu stark ist die Trennung von Geist und Körper noch in den Köpfen. Die dualistische Auffassung des Westens unterteilt den ›Leib-Körper‹ in Physis und Geist, wobei der Geist wie ein »Gespenst in der Maschine« den Körper bewegen soll. Diese Lehrmeinung wurde durch Descartes begründet (17. Jh.): Der Geist ist ein Ding (eine res, nämlich eine res cogitans, ein »denkendes Ding«, das nicht physikalisch funktioniert) und der Körper ist ein anderes Ding (res extensa, das »ausgedehnte Ding«, das physikalisch funktioniert). Diese Auffassung des ›gespaltenen Leibes‹ ist bis heute wirksam, denn obwohl sie wissenschaftlich überwunden wurde, ist sie doch noch immer fest im ›common sense‹ verankert.

Sportliche Aktivitäten, die angeblich die Gesundheit stärken, sollen nach dieser Auffassung den Körper unterwerfen und ihn sich wie ein Ding untertan machen. Doch die Eroberung in der Fitness schwächt den Leib am Ende: Der Geist, der Wille, treibt den Körper an wie ein gehorsames Instrument; der Körper wehrt sich, weil seine Bedürfnisse übergangen werden, doch dieser Widerstand soll nur ein ›innerer Schweinehund‹ sein und gebrochen werden. Ein passenderes Bild für Selbstunterdrückung gibt es wohl kaum.

Taiji und Qigong sind ›Bio‹ weil sie mit der menschlichen Natur, die bestimmt ist von der Einheit von Körper und Geist, pfleglich, also ›nachhaltig‹ umgehen. Taiji und Qigong brauchen Stille und Langsamkeit und lassen sie im hektischen Alltag auch entstehen. Das verordnete Stillhalten, das wir im Moment erleben, ist also eine passende Gelegenheit, sich diesen beiden Disziplinen anzunähern und aus der Krise eine Chance zu machen: Taiji und Qigong entdecken. Beide sind nicht nur gut für unsere Gesundheit, sondern brauchen darüber hinaus auch wenig Platz und keine teure Ausrüstung. Gezielte und regelmäßige Übungen (15 Minuten pro Tag) sind die beste Gesundheitsprophylaxe und helfen, außergewöhnliche Belastungen zu bestehen.

Selbst in Wuhan praktizierte das Pflegepersonal mit den Patienten Taiji, als die Coronakrise auf dem Höhepunkt war. https://www.youtube.com/watch?v=JnbjACXp-SE.

15 Minuten üben sind ein wichtiger Beitrag, bis ins hohe Alter die Gesundheit zu erhalten. Taiji und Qigong sind darüber hinaus als wirkungsvolle Ergänzung zu schulmedizinischen und alternativen Therapiemethoden anzusehen. Die sanften Bewegungen fördern die Selbstheilungskräfte und somit die Vitalität von Körper, Geist und Seele in ihrer Gesamtheit, wie dies zahlreiche Studien der letzten 20 Jahre aufzeigen.

»Menschen müssen das eben wieder lernen, dass alle gesundheitlichen Störungen, Wehwehchen und selbst alle Infektionen in Wahrheit Winke sind, das Angemessene, die Balance des Gleichgewichts wieder zu gewinnen. Am Ende gehört beides zusammen. Störung und Überwindung, das macht das Leben aus.« Hans-Georg Gadamer, deutscher Philosoph, 1900–2002