»Geh aus mein Herz und suche Freud / in dieser lieben Sommerzeit / an deines Gottes Gaben …«
Die Aufforderung dieses schönen Liedes von Paul Gerhardt (1607–1676), das die meisten von uns Älteren kennen, ist sehr aktuell, auch wenn die Sommerzeit nicht wirklich lieb, sondern eher zu heiß ist. Das Bedürfnis nach Freude ist groß: Zuerst waren wir während des Lockdowns eingesperrt in die eigenen vier Wände und nun schränken die AHA-Regeln – Abstand, Hygiene, Alltagsmasken – unsere Freude am Alltäglichen ein. Ob Kunst, Sport, Partys, Sex und Rock 'n' Roll, Urlaub oder die Gesellschaft mit Freunden – ein jedes Herz sucht wieder sein Vergnügen und bricht dabei mitunter die AHA-Regeln, was nicht Wenige beunruhigt, die gesund bleiben möchten.
Wie steht es da mit Taiji und Qigong? Kann das Herz auch dort Freude und Gesundheit bringen – oder entspannt und beruhigt es nur die Seele wie ein Sedativum?
Das Herz im Qigong und Taiji
Wu Yuxiang (1812–1880), ein Taiji-Meister aus dem 19. Jahrhundert, behauptete: »Mit dem Herzen lenkt man das Qi«. Diese entscheidende Aussage zur Praxis von Qigong und Taiji besagt, dass die Bewegungen in diesen beiden Disziplinen vom Herzen ausgehen, vom Lebenszentrum, das als Ort der Menschlichkeit gilt.
Das chinesische Schriftzeichen心, xin, das Herz, bezeichnet zunächst das physische Organ und bildet als Piktogramm die Herzkammern ab. Doch die symbolische Bedeutung von Herz im Westen als Sitz der Gefühle ist bei uns eine andere als in China: Dort galt das Herz bis zum Ende des 18. Jahrhunderts (auch) als Sitz des Bewusstseins, des Verstandes und der Intelligenz. »Mit dem Herzen lenkt man das Qi« heißt also auch »Mit dem Geist lenkt man das Qi.«
Emotionen – xin, das Herz, leer von Emotionen?
Versteht man also xin, das Herz, das das Qi lenken soll, als ›Geist‹ bzw. dessen mentale Funktionen (Aufmerksamkeit, Intentionalität und Vorstellungsvermögen), dann wird verständlich, dass Emotionen, die ja auch im Herzen zu Hause sind, in den Übungen zur ›Lebenspflege‹ wie Taiji und Qigong, keinen Platz haben. Anders gesagt: Bewegungen, die – wie im Tanz – Emotionen ausdrücken wollen, stören in den meditativen Übungen die innere Ruhe und Zentriertheit, aus welchen der Fluss des Qi gelenkt werden soll.
Die Sitzmeditation ist ein Weg, wie diese innere Ruhe und Zentriertheit erreicht werden sollte. Indem man die lebendigen Widersprüche des Seelenlebens ruhigstellt, erreicht man ein ›Fasten des Herzen‹, an dessen Ende eine innere Gelassenheit steht.
Maßhalten
Sich durch ein Fasten des Herzens ruhig zu stellen, war auch ein Ziel der chinesischen Heilkunde und Medizin. Über diesen Weg gewann dieses Ideal auch Einfluss auf das chinesische Alltagsleben und führte zu einer Moral des Maßhaltens. Weniger ist mehr, hieß es nicht nur beim Essen und Trinken, sondern auch beim Sex und den Emotionen.
Wie Paul U. Unschuld in seinem Buch dargelegt hat, beruhte diese Forderung nach Verzicht auf medizinischen Annahmen, auf »der Gewissheit, dass Freude, Trauer, Zorn, Grübeln und Ärger jeweils mit einem Organ verknüpft sind. Übermäßige Äußerungen dieser Gefühle führen zu einer Schädigung der betreffenden Organe. […] Hier ein Beispiel: Freude wird im Herzen erzeugt. Zu viel Freude entzieht dem Herzen seine Ressourcen und schwächt das Herz. Das Herz wird dadurch anfällig für den Erreger Hitze. Wer seine Freude zügelt, der braucht nicht zu befürchten, von Hitze befallen zu werden.« (Unschuld, S.86)
Emotionslose Ruhe und asketisches Maßhalten prägten häufig auch die Praxis von Qigong und Taiji, da sie als Wege zu einem gesunden langen Leben verstanden wurden. Doch dieser Weg beruht nur auf einem quietistischen, das heißt ruhigstellenden Daoismus. Neben diesen Stillsitzern, deren Körper wie Asche wird, gibt es noch einen anderen Daoismus mit einem anderen Umgang mit Emotionen.
Fasten oder Füttern des Herzens?
Dem daoistischen Philosophen Yang Zhu aus dem 4. oder 3. Jh. v.u.Z. wird etwa folgendes Zitat zugeschrieben:
»Ein vervollständigtes Leben ist das beste [Leben]. Ein Leben, das nicht vollständig ist, verhält sich [zu einem vervollständigten Leben] bereits zweitrangig. An nächster Stelle kommt der Tod. Am schlimmsten aber ist das Leben, welches genötigt wird«.
Von ihm selbst sind keine Schriften erhalten, aber wir kennen ihn über die Zeugnisse anderer Philosophen. Zur ›Lebenspflege‹, dem Ziel aller daoistischen Philosophie, trug er als erster den Gedanken des Quansheng bei. Quansheng meint so viel wie ›Vervollständigung des Lebens‹ oder ›Unversehrthalten des Lebens‹. Das vollständige Leben genießt sein Leben in vollen Zügen und in einer nicht asketisch ausgetrocknet Herzensdiät. In der Philosophie spricht man bei Yang Zhu deswegen auch von einem ›hedonistischen Daoismus›. »Hier trat Yang Zhu jedoch für einen kontrollierten Genuss ein, da ein Übermaß an Sinnenfreude das Leben gefährde. Weisheit bestehe darin, zunächst einmal festzustellen, welche Wünsche der eigenen Natur abträglich und welche ihr zuträglich seien.« (https://de.wikipedia.org/wiki/Yang_Zhu)
»Dem hedonistischen Daoismus ging es darum, das ohnehin viel zu kurze menschliche Leben voll auszuschöpfen und sich für nichts und niemanden aufzuopfern, wie es der Quietismus forderte; die Hedonisten wandten sich weniger gegen die Gesellschaft als gegen die durchgeplante Lebensführung, der ein Mensch im Konfuzianismus unterworfen war.« (in: Bauer S. 78).
Die richtige Pflege des Lebens umfasste für Yang Zhu auch eine Sorge um Freude und Heiterkeit, die ihre Wünsche nicht unterdrückt: »Beseitigt man diese Gedanken [die Wünsche zu unterdrücken], so kann man den Tod gelassen erwarten, sei es in einem Tag, in einem Monat, in einem oder in zehn Jahren. Das nenne ich ›Pflege des Lebens‹. Wer sich aber an diese Tyrannen bindet und von ihnen nicht loskommt, wird vielleicht auf trübselige Weise ein langes Leben erreichen. Und wenn es hundert, tausend oder zehntausend Jahre währte – ich nenne das nicht ›Pflege des Lebens‹« (Yang Zhu, in: Schleichert, S. 81). Wer mit dem Herzen fastet, unterwirft sich nach Yang Zhu nur einem Tyrannen, der Trübsal in die Seele bläst oder sie gleich ganz austrocknen lässt.
Happy Qi
Qigong und Taiji sollten also keine Wege zur Unterdrückung von Emotionen sein, sondern helfen, sie mithilfe von xin zu verwandeln. Denn Emotionen sind per se nicht der Ursprung für einen gestörten und verirrten Geist, sondern eine Quelle und ein Ausdruck unserer Lebenskraft.
Wie wir in der Akademie, quasi unter der Schirmherrschaft von Yang Zhu, Taiji und Qigong betreiben, sollen sie eine Freude hervorbringen, die aus dem Herzen kommt: Happy Qi nannte mein langjähriger Lehrer, Meister Chu, diese Heiterkeit, die dem freien Fluss der Lebensenergie Qi entspringt.
Wie es gelingt, die Emotionen auch für meditative Bewegungen zu nutzen, wie man sie in ein heiteres Qi verwandeln kann, ohne sie zu unterdrücken – das kann man zwar beschreiben, aber letztendlich muss es am eigenen Leib erfahren werden.
Beschrieben habe ich es in meinem neuen Buch – und wer es erfahren will, der sollte nächstes Semester in die Akademie kommen. Die neuen Kurse und die Termine für kostenlose Einführungsstunden sind wieder online.
Literatur:
Anders, Frieder: Das Qi verwurzeln – Qigong und Atemtypen. Kristkeitz, Heidelberg 2020
Bauer, Wolfgang: China und die Hoffnung auf Glück. Hanser, München 1971
Schleichert, Hubert: Klassische chinesische Philosophie. Klostermann Frankfurt/Main 1990
Unschuld, Paul U., Was ist Medizin? C.H.Beck, München, 2003