Weisheit des unsicheren Stehens

30. November 2020 | Frieder Anders | Weisheit des unsicheren Stehens

»Vertrauen zu haben bedeutet, sich dem Wasser anzuvertrauen.
Wenn du schwimmst, greifst du nicht nach dem Wasser, denn wenn du es tust, wirst du sinken und ertrinken. Stattdessen entspannst du dich und schwebst.« (Alan Watts)

 

Wir leben in unsicheren Zeiten. Die Sehnsucht nach Sicherheit und die Anstrengungen, sie zu erlangen, sind groß. Doch leben wir wirklich derart unsicher, wie es scheint? Wahrscheinlich stimmt eher die Beobachtung, die Alan Watts schon im Jahr 1951 in seinem Buch Wisdom of Insecurity gemacht hat: »(…) in der Tat ist unser Zeitalter nicht unsicherer als irgendein anderes. Armut, Krankheit, Krieg, Wandel und Tod sind nichts Neues. In wirklich guten Zeiten gab es Sicherheit auch nie anders als eine scheinbare und kurzzeitige. Aber es war möglich, die Unsicherheit des menschlichen Lebens erträglich zu machen durch den Glauben an Dinge, die unwandelbar waren und von Katastrophen nicht erreicht werden konnten, – durch den Glauben an Gott, an die unsterbliche Seele des Menschen und an die Herrschaft des Universums mit seinen ewigen Wahrheiten.« (Alan Watts, Wisdom of Unsecurity, New York 1951, S. 15 ff Übersetzung FA.)

Alan Watts (1915­­–1973) war eine markante Persönlichkeit, die in den 60er und 70er Jahren die östlichen Weisheitslehren in der westlichen Welt bekannt gemacht hat. In diesem Buch lehrt er die »Weisheit des ungesicherten Lebens« – wie wir also lernen können, uns der Unsicherheit zu stellen, ohne uns auf die Krücken von Religion oder Wissenschaft zu stützen. Gerade diesen Umgang mit der Unsicherheit müssen wir auch heute wieder lernen, seit das Virus uns aller Planungssicherheit beraubt hat und alles nur noch auf wackligen Füßen steht.

Der aufrechte Gang 

Einen sicheren Stand zu erlangen, ist die größte Weisheit bei Unsicherheit – und wie wir ihn erreichen, lehren uns Taiji und Qigong.

Man könnte meinen, der sichere Stand beginne mit dem Geradestehen, das uns den aufrechten Gang ermöglicht. In ihm drückt sich unsere Haltung zur Welt und zu uns selber aus: entweder prägt uns ein Gefühl der Sicherheit und wir stehen mit beiden Beinen im Leben – oder wir wünschen uns diese Sicherheit nur, sind unsicher und gehen mit zitternden Knien durch die Welt. Beides sind Arten sowohl der Körperhaltung als auch der Geisteshaltung. Doch es ist ein Irrtum zu glauben, dass ein aufrecht stehender Mensch immer wirklich sicher wäre. Schon der Philosoph Hans Blumenberg warnte davor, in der Selbstaufrichtung etwas zu sehen, worauf der Mensch als Krone der Schöpfung stolz sein könnte. Sie ist kein Ausdruck eines »anthropologischen Triumphalismus« (Kurt Bayertz), der Anlass zu Hochmut und Hochnäsigkeit gibt. Allenfalls verschafft der aufrechte Gang einen besseren Überblick und ist bestimmt von dem Versuch, sich der Schwerkraft bestmöglich anzupassen.

William Paley (1743–1805), ein englischer Philosoph und Vertreter einer »Natürlichen Theologie«, schreibt Über das Stehen von lebenden Körpern:

»Es gibt aber nun keinen Grund zu bezweifeln, dass ihre Teile durch die Gravitation in derselben Weise abwärts gezogen werden, wie die Teile toter Materie. Die Gabe scheint mir daher in einer Fähigkeit zu bestehen, durch eine Reihe wirklich unbekannter, aber schneller Ausgleichshandlungen den Schwerpunkt ständig so zu verschieben, dass die Standlinie, d. h. die Senkrechte vom Körpermittelpunkt zum Boden, innerhalb der vorgeschriebenen Grenzen bleibt. An diesen Handlungen zeigt sich, was wir (…) Stärke nennen.« (in: Bayertz, Kurt, Der aufrechte Gang, München 2012, S. 140). Nicht das aufrechte Stehen, sondern der ständige Ausgleich ist also die eigentliche Stärke in der menschlichen Bewegung. Ein Kind, das Laufen lernt, ist für Paley deswegen der »größte Haltungskünstler der Welt«. Es schafft spontan und unwillkürlich fortwährend einen Ausgleich zwischen der Schwerkraft, die uns nach unten zieht, und ihrer Gegenkraft, der Bodenreaktionskraft, die uns nach oben wachsen lässt. Diese naturwüchsige Aufrichtung ist uns westlichen Erwachsenen verlorengegangen. Wir werden in unseren Bewegungen steif, hart und fest. Wir suchen nicht mehr den spontanen Ausgleich von Schwerkraft und Bodenreaktionskraft, bei dem sich die Haltung des Körpers ständig wandelt und verändert. Eine steife Senkrechte vermittelt uns eine trügerische Sicherheit, die aber unseren Gang gar nicht sicherer werden lässt. Es ist nur Wenigen vergönnt, die Körperhaltung ihrer Kindheit ins erwachsene Dasein zu retten; die anderen müssen wieder lernen, diese Unsicherheiten zuzulassen, die durch die ständige Verlagerung des Schwerpunktes entstehen.

Taiji und Qigong: ein Ausweg

Taiji und Qigong verhindern oder lösen die Verhärtungen, die durch einen allzu aufrechten Gang entstehen. In beiden Disziplinen beugt man die Knie und lässt den aufrechten Rumpf ein Stückchen zur Erde sinken. Ganz wie die kleinen Kinder, die nie mit gestreckten Beinen das Laufen erlernen, sondern immer den Kontakt zur Erde bewahren. Dieses aufrechte Sinken schafft, wie es im Taiji heißt, einen »Ausgleich zwischen Himmel und Erde«. Es löst den Stress und die Spannungen, die durch die Aufrichtung im Körper entstehen.

Aber allzu oft geht beim Beugen der Knie in Taiji und Qigong die Aufrichtung wieder verloren und die Übenden knicken ihren Oberkörper zusammen mit den Knien. Sie lassen sich von der Schwerkraft ziehen und vernachlässigen die Bodenreaktionskraft. Als Ergebnis duckt sich diese Körperhaltung vor der Aufrichtung weg und flieht vor der Unsicherheit, die dem aufrechten Gang immanent ist. Das ist schade, weil es eine Form von Eskapismus ist und die Möglichkeit verpasst, aus der Verbindung von Erde und Himmel innere Kraft – das, was Paley Stärke nennt – zu gewinnen.

Fallen, um nicht zu fallen

Wenn ich in einer Einführungsstunde die Teilnehmer auffordere, aufrecht zu stehen, heben so ziemlich alle das Brustbein an. Diese typische Reaktion geschieht unwillkürlich und ist doch von einem Willen getragen, dem Willen zur Selbstbehauptung. Eine wirklich unwillkürliche Aufrichtung passiert dagegen, wenn Gefahr besteht. In einem Moment, in dem wir unabsichtlich unseren festen Stand verlieren, reagiert der Körper mit einer reflexhaften Streckung, so als wollte er dem drohenden Sturz nach oben entfliehen.

Im LebenstorQigong® imitieren wir gewissermaßen die sichere Landung nach einem Sturz aus großer Höhe. Die Knie sinken zum Boden und federn den Aufprall ab, und auch der Körper richtet sich auf, wie er es unwillkürlich tut, um den Stand nach dem Fall zu bewahren. Nach einer sicheren Landung berichten alle Fallschirmspringer, Bungee-Jumper, Drachenflieger und Wasserspringer von einem Glücksgefühl, das vielleicht auch mit den Glücksgefühlen vergleichbar ist, die sich beim LebenstorQigong einstellen. Garantieren kann ich es nicht, denn mir fehlt der Vergleich. Ich bin noch nie gesprungen.

Vorwärts und rückwärts fallen

Wie fällt man also richtig im LebenstorQigong? Oder wie landet man nach einem Fall richtig? Bei den beiden Atemtypen gibt es da einen eklatanten Unterschied: Einatmer fallen rückwärts, Ausatmer vorwärts.

Der Sog des Einatmens ist bei den Einatmern stärker als das Luftablassen beim Ausatmen. Ihr Körper steht unter einer ständigen Zugspannung, der ihren Rücken nach hinten-oben wachsen lässt. Wenn sich Einatmer im Reflex aufrichten, recken sie ihre Schultern hinter den Schwerpunkt zurück, um den Fall auszugleichen.

Bei Ausatmern ist hingegen die starke Phase des Abgebens der Luft stärker als das Hineinlassen beim Einatmen. Ihr Körper sinkt und richtet sich nach vorne-unten aus. Wenn die Ausatmer fallen, recken sie ihren Körper nach vorne und gleichen so die Verlagerung des Schwerpunktes aus.

Bilder zu finden, die diesen Moment des Fallens zeigen, war nicht einfach. Für den Einatmer passt das Bild eines Kletterers, der im Begriff ist, sich abzuseilen. Er überlässt sich dem Fall rückwärts und wird nur noch von der Zugspannung gehalten, die von den Seilen ausgeht, die ihn absichern.

https://www.tripadvisor.de/Attraction_Review-g293761-d15326924-Reviews-Abseil_Victoria_Falls-Victoria_Falls_Matabeleland_North_Province.html#photos;aggregationId=101&albumid=101&filter=7&ff=378175226

Für die Ausatmer ist dagegen der Pinguin-Gang typisch. Pinguine verlagern ihr Gewicht völlig auf den vorderen Fuß und richten auch ihr Zentrum – den Körperschwerpunkt – geneigt nach vorne aus, damit sie auf dem Eis nicht ausrutschen und hinfallen.

https://www.express.de/koeln/bloss-nicht-stuerzen-----bei-eis-und-schnee--koelner-gehen-besser-wie-ein-pinguin--31972362?cb=1606232797105

Die Weisheit des sicheren Stehens

Aus diesen beiden Extremsituationen werden die Grundhaltungen des Stehens im LebenstorQigong® abgeleitet. Beide Atemtypen halten ihre Knie gebeugt und bewahren im Sinken die wundersame Aufrichtung des Körpers. Ich verzichte hier auf eine genaue Anleitung dieses Vorgangs, weil die Sprache das allein nicht vermag. Man muss sich mit der Warnung der alten Meister begnügen, dass hier »die kleinste Abweichung meilenweit in die Irre« führt. Wundersam ist die Aufrichtung, die bei richtiger Ausführung entsteht, weil Himmel und Erde zum Ausgleich kommen: die Schwerkraft, die uns festhält und die Kraft, die uns aufrichtet. Ein Gefühl von gleichzeitiger Stärke und Leichtigkeit stellt sich ein, bei dem kein Platz für Unsicherheit mehr bleibt.

Das ist die Weisheit des Stehens im Taiji und Qigong: ein Moment der ganzheitlichen Sicherheit im unsicheren und ungewissen Alltag. Anstatt uns krampfhaft aufzurichten, überlassen wir uns den Kräften zwischen Himmel und Erde und werden von diesen getragen. Es bleibt nur die Unsicherheit des Schwebens wie bei einem sicheren Schwimmer im Wasser.