Wir haben die Taiji Akademie seit dem 15. Mai wieder geöffnet und setzen unseren Weg fort, um ›flutende Lebenskraft‹ zu erlangen. Natürlich werden wir uns an alle Vorgaben bezüglich Hygiene und Abstand halten.
Die ›flutende Lebenskraft‹ ist ein Ausdruck des chinesischen Philosophen Mengzi. Mengzi, der auch Mong Dsi, Meng-Dse oder latinisiert Menzius geschrieben wird, lebte um 370–290 v.u.Z. Der Mensch ist in seiner Philosophie sowohl egoistisch als auch altruistisch, doch alle Menschen hätten zugleich eine gemeinsame Natur von Geburt an, die gut ist. Durch äußere Einflüsse und die äußeren Verhältnisse verfällt diese ursprünglich gute Natur und die Menschen werden schlecht. Geschichtliche oder wirtschaftliche Umstände können zu diesem Verlust der angeborenen Güte führen, aber auch fehlende Anwendung und fehlendes Training dieser guten Anlagen.
Im Schlaf erhält der Mensch eine gewisse moralische Erfrischung und regeneriert sich zum Teil von den schlechten Einflüssen des Tages. Doch diese Zeit reicht nicht zur völligen Regeneration. Den Rest muss man sich durch regelmäßige Übung wieder antrainieren oder abtrainieren.
Über die ›flutende Lebenskraft‹ erzählt Mengzi folgende Geschichte.
Der Schüler sprach: »Darf ich fragen, was mit der flutenden Lebenskraft (氣 – qi) gemeint ist?«
Mengzi sprach:»„Darüber lässt sich schwer reden. Was man unter Lebenskraft versteht, das ist etwas höchst Großes, höchst Starkes. Wird sie durch das Rechte genährt und nicht geschädigt, so bildet sie die Vermittlung zwischen unsichtbarer und sichtbarer Welt. Was man unter Lebenskraft versteht, gehört zusammen mit der Pflicht und mit dem Sinn des Lebens. Ohne diese beiden muss sie verkümmern. Sie ist etwas, das durch dauernde Pflichtübung erzeugt wird, nicht etwas, das man durch eine einzelne Pflichthandlung an sich reißen könnte. Wenn man bei seinen Handlungen sich nicht innerlich wohlfühlen kann, so muss jene Kraft verkümmern (...) Sicherlich bedarf es – zur Pflege der Lebenskraft – der Arbeit, aber man soll dabei nicht nach dem Erfolg schielen. Das Gemüt soll das Ziel nicht vergessen, aber dem Wachstum nicht künstlich nachhelfen wollen. Man darf es nicht machen wie jener Mann aus Sung. Es war einmal ein Mann in Sung, der war traurig darüber, dass sein Korn nicht wuchs, und zog es in die Höhe. Ahnungslos kam er nach Hause und sagte zu den Seinigen: Heute bin ich müde geworden, ich habe dem Korn beim Wachsen geholfen. Sein Sohn lief schnell hinaus, um nachzusehen, da waren die Pflänzchen alle welk.«
Diese Fabel von dem Bauern, der den Pflanzen beim Wachsen helfen will, wird dem Philosophen Hanfei (ca. 280–233 v.u.Z) zugeschrieben: der ist aber jünger als Mengzi und folglich muss die Fabel älter sein. Sie scheint, wie viele Beispiele der Literatur des chinesischen Altertums, zu den allgemeinen Volksweisheiten gehört zu haben und ist bis heute aktuell. Es gibt immer noch ein Sprichwort, das sich auf diese Geschichte bezieht: 拔苗助长 – An den Setzlingen reißen, um beim Wachsen zu helfen (https://language.chinaabout.net/ba-miao-zhu-zhang-translation-meaning-pronunciation-examples/). Wer das tut, verstößt gegen die natürliche Bewegung und macht alles kaputt durch zu viel Engagement.
Die Fabel und das Sprichwort verdeutlichen beide das Prinzip des wu wei.
Wu wei
無爲 Wuwei. Die beiden Zeichen bilden einen kompletten prohibitiven Satz: »Greife nicht ein!« Er stellt eine wichtige Maxime des Daoismus dar. In die eigengesetzlichen Prozesse des Werdens sollte nicht eingegriffen werden, da aktives Eingreifen destruktiv wirkt. Die Zurückhaltung und der sanfte Umgang mit der belebten und unbelebten Natur (und sich selbst) wird allerdings als durchaus aktive Haltung verstanden, die warten kann, bis sich die Sachen von selbst entwickeln. So lautet ein berühmte Satz aus dem Daodejing von Laozi 無爲而無不為 wuwei er wu bu wei: »Greife nicht ein und da ist nichts, das nicht getan würde« (R. Simon).
Aber heute, in der Corona-Krise, ist doch schnelles Eingreifen und dynamisches Handeln gefragt – oder? Oder haben diejenigen Recht, die nichts unternehmen wollen und diese Meinung lautstark in Demonstrationen und in den Medien propagieren?
Hören wir Mengzi weiter:
»Es gibt wenige Leute auf der Welt, die nicht dem Korn beim Wachsen helfen wollen. Es gibt Leute, die denken, es komme nichts dabei heraus, und sich gar nicht um die ganze Sache kümmern. Die gleichen denen, die das Korn nicht von Unkraut säubern wollten. Die aber, die dem Korn beim Wachstum helfen wollten, nützen ihm nicht nur nichts, sondern schädigen es sogar.« (a.a.O.)
Was ist also zu tun? Die Mitte finden, so banal es klingt.
Die Auffassungen zur Gefahr des Coronavirus und die Einstellungen, wie dieser zu begegnen sei, sind diametral verschieden: Die einen wollen dem Leben so sehr beim Wachsen helfen, dass sie es herausreißen. Um jeden Preis sollen Leben gerettet werden, aber was ist mit dem Sterben-dürfen? Kann eine Lebensrettung um jeden Preis ein höheres Gut sein, als in Würde sterben zu lassen? Die lebensverlängernden Maßnahmen der Medizin verlängern mittlerweile nicht mehr das Leben – sie verzögern nur den Tod, als ob sie das Sterben verbieten wollten.
Um in der Geschichte des Mengzi zu bleiben: Man hilft nicht mehr dem Korn, man vernichtet nur noch alles Lebendige, das einmal Unkraut werden könnte. Damit haben wir ein treffendes Bild für den Kahlschlag eines Lockdowns mit all seinen Nebenwirkungen für das Leben der Menschen. Es ist ja eine bekannte Einstellung, dass man alles ausmerzen muss, was schädlich ist. Einem Unkrautvernichter wie Glyphosat gelingt das auch. Wenn er eingesetzt wurde, ist alles Böse vernichtet, aber auch alles Gute. Der Lebensraum für Tiere und Pflanzen wird vergiftet, und schließlich der Mensch selbst. Ganz aktuell: https://www.bmu.de/themen/natur-biologische-vielfalt-arten/naturschutz-biologische-vielfalt/gebietsschutz-und-vernetzung/natura-2000/lage-der-natur-2020/ und ein Kommentar https://www.riffreporter.de/flugbegleiter-koralle/naturschutz-kommentar-krumenacker
Auch hierzu äußert sich Mengzi mit einem Rat an die Herrscher:
»Verbietest du den Gebrauch feingeknüpfter Netze in großen Teichen, dann werden dort mehr Fische und Schildkröten sein, als die Menschen essen können. Erlaubst du Äxte und Hacken im Wald nur zur richtigen Saison, dann wird es dort mehr Holz geben, als die Menschen nutzen können.« (Wikipedia a.a.O.)
Und diejenigen, »die das Korn nicht von Unkraut säubern wollten« und die alle Maßnahmen für überflüssig halten, weil sie, »denken, es komme nichts dabei heraus, und sich gar nicht um die ganze Sache kümmern?« Solche Leute brauchen dann Verschwörungstheorien, um ihrer Ängste Herr zu werden.
Wir können uns schützen
Mit Taiji und Qigong verfügen wir über ein Übungssystem, mit dem wir unsere Selbstheilungskräfte und unsere Gelassenheit durch tägliche Übung stärken und vermehren können. Denn wenn die eigene flutende Lebenskraft offenbar fähig ist, das Immunsystem zu stärken, wie es zahlreiche wissenschaftliche Studien zu Taiji und Qigong in den letzten Jahren gezeigt haben, dann ist die Pflege und Wiederherstellung dieser flutenden Lebenskraft ein wirksamer Schutz.
Es scheint, als habe Mengzi auch selbst solche Übungen praktiziert, Vorformen von Taiji und Qigong. Lesen wir noch einmal den Text des Menzius oben im Blog: Flutende Lebenskraft »ist etwas, das durch dauernde Pflichtübung erzeugt wird, nicht etwas, das man durch eine einzelne Pflichthandlung an sich reißen könnte. Wenn man bei seinen Handlungen sich nicht innerlich wohlfühlen kann, so muss jene Kraft verkümmern.« (Mengzi) Wir müssen »dranbleiben« und täglich üben – das ist die Pflicht, die wir haben, uns selbst und den anderen gegenüber. Und wir müssen uns innerlich dabei wohlfühlen. Wir alle wissen aus Erfahrung, dass, wenn wir aus Pflichtgefühl heraus zu üben beginnen, obwohl uns eigentlich nicht danach ist, sich dann Wohlgefühl und Heiterkeit einstellen. Also: einfach anfangen! Das ist auch ein Weg zur Gelassenheit in diesen schwierigen Zeiten. Ach ja, genügend Schlaf nicht vergessen! Der wird ja von Mengzi auch in seiner Wirkung gerühmt.