»Kein Wind ist demjenigen günstig, der nicht weiß, wohin er segeln will.« (Montaigne)
»Ein Beitrag zum Identitätsproblem«: So lautete nach einer Spätvorstellung im Bahnhofskino das Fazit von Gerhard Büttenbender, einem Medienwissenschaftler, Drehbuchautor, Filmemacher und Hochschullehrer, mit dem ich in meiner Zeit am Staatstheater Kassel von 1967 bis 1969 Kontakt hatte. Mit solchen Weisheiten versuchte er wahrscheinlich in der Zeit der Studentenrevolte 1968 mich arme Seele, der ein Künstler sein wollte, politisch zu erziehen. Mir kam der Spruch ziemlich blöd vor. Vielleicht hatte ich auch nicht wirklich verstanden, was er eigentlich sagen wollte. Aber als Analyse des Dracula-Films mit Christopher Lee war mir diese Aussage viel zu beliebig.
Das Identitätsproblem
Die Identität gilt heute als schwierig zu definieren, weil sie sich gerade in der Moderne aus vielen verschiedenen, unzusammenhängenden Stücken zusammenzusetzen scheint: »Das moderne Individuum lebt in einer Gesellschaft, in der es sich nicht mehr allein über seinen Beruf identifizieren kann. Vielmehr spielen neben dem Beruf auch Freizeitaktivitäten, Freundeskreis, Familie, Interessen usw. eine ernstzunehmende Rolle bei der Definition der eigenen Individualität. Im Zuge der Globalisierung gibt es immer häufiger Fälle, in denen nicht einmal mehr die Nationalität eindeutig zuschreibbar ist, wie beispielsweise bei der doppelten Staatsbürgerschaft. All diese Aspekte führen dazu, dass das Subjekt quasi eine Patchwork-Identität entwickelt.« (Nicole Janzen, https://www.grin.com/document/383965.)
Vielleicht ist es aber auch ein Fehler, eine Identität als etwas Bleibendes und Festes, aus einem Guss, überhaupt zu suchen. Die Frage ›Wer bin ich?‹ kann ohne eine Frage nach dem Wandel gar nicht beantwortet werden: Bleibe ich ich selbst, wenn ich mich verändere? Wie weit kann sich meine Identität verändern, ohne dass sie sich auflöst? Oder ich mich? Vielleicht entwickeln wir unser Selbst auch erst wirklich durch Wandlung, ohne zu einer ›Patchwork-Identität‹ zu werden.
Das Schiff des Theseus: Alte Form mit neuem Inhalt
Die Frage nach der Identität ist ein altes philosophisches Problem: Wann bleibt jemand oder etwas dasselbe und wann wird es zu etwas anderem. Das Schiff des Theseus ist ein klassisches Paradoxon, das sich mit dieser Frage beschäftigt. Auf einer Segelfahrt des Theseus mussten nach und nach alle Planken seines Schiffes ersetzt und erneuert werden. Als er wieder in seinen Heimathafen zurückkehrte, gab es an Bord kein einziges Stück von dem Holz mehr, mit dem es vor seiner Abfahrt gebaut worden war. Der Philosoph Thomas Hobbes (1588–1679) stellte nun die Frage: Welches der beiden Schiffe ist eigentlich das Schiff des Theseus? Ist es das alte Schiff, von dem nur noch Form existierte, aber nichts mehr von dem Stoff, aus dem es gemacht wurde? Oder ist das neue Schiff des Theseus, das neues Holz in eine alte Form gebracht hat? Sind beide Schiffe überhaupt noch dasselbe Schiff? Das Schiff des Theseus ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich im Wandel eine Identität erhält, ohne zu einem Patchwork zu werden. Das Patchwork aus neuen Hölzern ist gar nicht das Entscheidende.
Das Paradoxe einer Identität im Wandel hat der griechische Philosoph Heraklit gut in Worte gefasst: »Wir steigen in denselben Fluss und doch nicht in denselben, wir sind es und wir sind es nicht.« In dem Gedanken, dass das einzig Beständige der Wandel ist (»Alles fließt«, panta rhei), sind sich die griechische und die chinesische Philosophie sehr nahe. Und auch die Naturwissenschaften haben diesen fortwährenden Wandel längst erkannt. Die allermeisten Zellen des menschlichen Körpers, ausgenommen Nerven- und Herzmuskelzellen, haben eine deutlich kürzere Lebensdauer als der Mensch selbst. Sie teilen sich, sterben ab und neue wachsen heran. Auch der Organismus ist wie das Schiff des Theseus etwas, das im Wandel eines bleibt, obwohl sie die Körpermaterie fortwährend austauscht und nicht dieselbe bleibt.
Taiji: Identität durch Wandel
Und nicht zuletzt im Taiji und Qigong bleiben wir immer das gleiche Schiff, das seine Planken auswechselt – wir verändern uns und bleiben doch dieselben. Die Form bleibt immer die gleiche, aber ihre Bauelemente werden ausgetauscht. Durch die Vertiefungsstufen lernt der Körper nach und nach, sich in Spiralen zu bewegen, und so wieder »zu Natur zu werden«.
Denn auch die Natur bewegt sich in Spiralen, vom Wasserstrudel bis zur DNA-Helix. Dass die menschliche Fortbewegung ebenfalls auf diesem Spiralprinzip der Natur aufbaut, gehört zu den Erkenntnissen des Inneren Taijiquan und liegt seinen Bewegungsprinzipien zugrunde, die ebenso einfach wie genial sind. Je mehr sich die Bewegungen ändern, desto mehr verändert sich auch der Geist, der nach und nach die universelle Bedeutung der Spirale erkennt.
Keine Windstille
Als ich 1973 anfing, Taiji zu lernen, kam ich nach fünf Jahren an den Punkt, an dem ich mich fragte: Wozu das Ganze? Ich hatte mit einer vereinfachten Variante des Yang-Stils begonnen. Es gab keine Herausforderungen mehr, keine Vertiefungsstufen, sondern nur die Maxime, die Bewegungen so entspannt wie möglich zu machen. Irgendwann war die Luft raus, es herrschte sozusagen eine Windstille, in der mein Schiff herumdümpelte.
In der Taiji Akademie sorgen wir für Wind, damit unser Schiff über die Weiten des Meeres segeln kann, angetrieben von spiralförmigen Bewegungen. Diesen Weg verdanken wir dem Yang-Familienstil, vermittelt durch meinen Lehrer, Meister Chu. Darüber hinaus habe ich herausgefunden, wie wir die Frage beantworten können, ob wir das Schiff bleiben, das wir selber sind: Segeln wir – oder müssen wir rudern? Trägt uns der Wind – oder stehen wir unter Dampf? Schweben wir über dem Wasser – oder gehen wir unter?
Das Bleibende unserer Natur ist der individuelle Atemtyp: ob wir Einatmer oder Ausatmer sind, bestimmt die Art der Bewegungen, die uns leicht segeln lassen. Der Atemtyp gibt unserer persönlichen Identität einen festen Grund, auf dem wir die Wandlungen unseres Selbst sicherer erfahren können: Wie stehen wir auf der Erde, wie verbinden wir uns mit dem Himmel? Die Einatmer von unten nach oben und die Ausatmer von oben nach unten: sie steigen unterschiedlich in den Fluss und aus ihm heraus, und beide versinken nicht.
Frieder Anders
PS: Die Arbeit mit den Atemtypen werden wir durch die Zusammenarbeit mit Marco Gerhards verstärken, der 2016 ein schönes Buch darüber veröffentlicht hat (er benutzt ›Atemform‹ statt ›Atemtyp‹).
Marco Gerhards, Die Atemformen beim Menschen, 2016.