Corona zum dritten: Hurra, gewonnen!

14. September 2020 | Frieder Anders | Corona zum dritten: Hurra, gewonnen!

»Schneller, höher, weiter« (olympische Devise)

 

Am dreißigsten August meldet die Deutsche Welle: Coronavirus: Indien bricht Rekord bei täglichen Neuinfektionen. Eine Woche später titelt der Nachrichtensender n-tv: Platz zwei hinter USA: Indien überholt Brasilien bei Corona-Fällen.

Es ist fast schon makaber – die olympische Devise scheint so sehr unsere angebliche Leistungsgesellschaft zu bestimmen, dass sie jetzt auch dafür herhalten muss, die Ausbreitung des Corona-Virus zu beschreiben. Offenbar geht nichts mehr ohne Messen und Vergleichen; alle Aktivitäten und Ereignisse werden danach bewertet, ob sie rekordverdächtig sind. Selbst das Virus hat seine Bestenliste.

Im Sport ist es allgemein anerkannt, dass dort die vollbrachten Leistungen gemessen werden müssen, mit angeblich objektiven Kriterien, die von außen kommen. Wie groß war die messbare Distanz und wie lange hat man dafür gebraucht – das sind die einzigen Fragen. Leistung heißt dann bloß: in kürzerer Zeit eine längere Strecke schaffen. Die subjektive Dimension des Erlebens von Bewegung und gefühlter Zeit spielen bei diesem Begriff von Leistung keine Rolle. Im Gegenteil, Subjektivität gilt eher als Schwäche und als die Unfähigkeit zu siegen. Der unbedingte Wille zum Sieg und zu immer höheren Leistungen führt zu den typischen Verletzungen, die der Leistungssport hervorbringt, wenn er das Subjekt mit seinem Körper missachtet: »Der große Sport beginnt dort, wo die Gesundheit endet« (Brecht).

Anders ist es im Taiji; dort wird weder die Distanz noch die Dauer gemessen. Die Form, die Grundübung des Taiji, bewegt sich im Kreis und kommt nirgendwo hin. Sie endet, wo sie begonnen hat. Die Geschwindigkeit ist egal, nur langsam und gleichmäßig sollen die Bewegungen sein. Natürlich kann man die ungefähre Dauer für eine Ausführung angeben, aber es wäre absurd, wenn sich jemand mit Stoppuhr daneben stellen würde. Niemand zählt die Schritte oder misst den Puls, um zu überprüfen, ob der Praktizierende seine Leistungsgrenze bereits erreicht hat.

Im Taiji geht um die eigene Erfahrung, um Bewegungen, die den Ausgleich von Erde und Himmel suchen und die – modern ausgedrückt – eine optimale Anpassung an die Schwerkraft anstreben. Die Leistungen des Taiji sind andere: Runterkommen aus der Hektik des Alltags und das eigene Potential an Innerer Kraft entdecken und entwickeln, darum geht es und dazu dient die Übung der Form. Dafür soll man sich Zeit lassen.

Hektik entsteht immer dann, wenn alles schneller werden soll, wenn alles nach der Zeit gemessen wird. Am Ende erscheint dann selbst unser Leben wie ein ewiger Wettlauf – doch zu welchem Ziel? Zum Tod? Der kommt von alleine, unangemeldet, ohne einen straffen Terminplan; für ihn müssen wir uns nicht beeilen. Oder sollen wir dem Tod entrinnen? Uns bis zum Äußersten der Selbstoptimierung unterwerfen? Auch das wird nichts nützen, das Ende kommt.

Mircea Eliade (1907–1986), ein rumänischer Philosoph und Religionswissenschaftler, schreibt in seinem Buch Kosmos und Geschichte. Der Mythos der ewigen Wiederkehr. Reinbek b. Hamburg, Rowohlt, 1966, dass das abendländische Weltbild gekennzeichnet sei durch eine »lineare Auffassung der Zeit und der Geschichte«. Es gibt ein Schöpfungsereignis, bei dem die Welt beginnt, und ein Ende der Welt, das entweder durch den Willen Gottes oder durch eine dem Kosmos immanente Kraft bewirkt wird.

Ursprünglich war man in archaischen Gesellschaften noch der Meinung gewesen, dass sich die Weltgeschichte in zyklischen Wellenbewegungen ereigne, die dem Einfluss der Sterne unterworfen sind. Doch »vom 17. Jahrhundert ab gewinnen der Linearismus und die fortschrittliche Auffassung von der Geschichte immer mehr an Kraft und bauen den Glauben an einen unendlichen Fortschritt ein (...). Diese Anschauung wurde beherrschend im Jahrhundert der Aufklärung und wurde dann im 19. Jahrhundert durch den Triumph der Evolutionsideen vulgarisiert. Erst in unserem Jahrhundert [dem 20.] lassen sich wieder gewisse Reaktionen gegen den historischen Linearismus bemerken; gleichfalls wird eine Rückkehr des Interesses an der Zyklentheorie sichtbar.« (Eliade a.a.O. S. 118).

Durch die monotheistischen Offenbarungsreligionen entsteht ein Bewusstsein des Menschen von sich selbst als einem geschichtlichen Wesen. Das Leben des geschichtlichen Menschen besteht nicht darin, ein vergangenes mythisches goldenes Zeitalter immer wieder zyklisch zu wiederholen, wie es auf der archaischen Stufe des Bewusstseins der Fall war. Das Leben eines Menschen mit historischem Bewusstsein ist ausgerichtet auf ein jenseitiges Ziel, das am Ende des Lebens und der Zeit steht. Diesem Ziel ordnet er sein Leben unter, egal, ob dieses Ziel nun religiös ist, wie das Eingehen in das Paradies des Christentums, oder ob dieses Ziel säkular ist und als Utopie seine Hoffnung auf die beste aller möglichen Welten setzt.

Paradiese und Utopien sind Modelle zugleich für das Ursprüngliche und das zukünftig Erwartete, bei denen Urzeit und Endzeit zusammenfallen. Der Weg dahin läuft nicht mehr in Kreisen ab, sondern wird ein linearer Zeitpfeil. Das Beste und die Höchstleistungen der Utopie und des Paradieses geschehen in »illud tempus«, »jener fernen, jenseitigen Endzeit«, in der die Geschichte endet. Der moderne Leistungssport hängt diesem Glauben an: Sein Ziel sind Rekorde jenseits des Gesunden, die nur einmal erreicht werden können, und der Weg dorthin ist ein linearer Weg der Selbstoptimierung.

Hauptsache dabeisein und, wenn möglich, Rekorde aufstellen – das ist der olympische Geist der Moderne mit ihrer linearen Zeit. Wenn auch bei der Ausbreitung des Corona-Virus dieses Motto mitschwingt, verdecken solche Pressemeldungen, dass auch der Wechsel von Gesundheit und Krankheit meist ein Zyklus ist, der mit Regeneration und Genesung endet.

Vielleicht ist es deshalb heilsam, mit Taiji einmal am Tag den herrschenden Linearismus zu verlassen und sich auf eine Zeit einzulassen, die in Zyklen wiederkehrt. Wenn der Weg das Ziel ist, verschwinden der Rekord, den man erreichen soll, und die Überforderungen des eigenen Körpers, die dazu nötig wären. Die tägliche Übung ist eine stetige Wiederkehr desselben, und auch die Taiji-Form selbst dreht sich in ihren Bewegungen nur im Kreis. Doch erst im Kreisen dieser Kreise geschieht der eigene Wandel und erschließen sich die lebendigen Zyklen der Welt.