Dass das Schwache das Starke besiegt,
das Harte dem Weichen unterliegt,
eder weiß es, doch keiner handelt danach.
(Laozi)
In welcher Körperhaltung kann man am besten atmen? In aufrechter Haltung wie Turnvater Jahn – also Brust raus und Bauch rein? Eher nicht. Das Sinnbild für Stärke und Vorbild für Athleten und Bodybuilder ist keine Körperhaltung, die für therapeutische Zwecke geeignet wäre, wenn ein Mensch nur schwer atmen kann. Kommt es zu Atemnot, sei es durch Krankheit oder infolge einer exzessiven körperlichen Verausgabung, wird der Körper schwach und muss erst wieder zu Atem kommen. Die Körperhaltung, die dann eingenommen wird, entspricht so gar nicht dem westlichen Idealbild der körperlichen Stärke, sondern wirkt eher schwach und passiv. Der Mensch setzt sich in den sog. Kutschersitz und nimmt die Haltung eines Droschkenkutschers ein, der in lockerer, leicht vornübergebeugter Haltung den Bewegungen seiner Pferde folgt und sie gleichzeitig kontrolliert. Wer frei wieder zu Atem kommen will, nimmt nicht die aufrechte Haltung eines Kutschers ein, der mit angespannten Muskeln zum Stehen bringen will, sondern wirkt eher wie ein Kutscher, der sich hinhockt, auf Kundschaft wartet und eventuell ein Nickerchen dabei macht.
»Als Kutschersitz wird in der Krankenpflege, Physiotherapie und Medizin eine atementlastende bzw. -unterstützende Sitzposition bezeichnet. Beim Kutschersitz wird durch Dehnung des Brustkorbs die Atemfläche vergrößert, was ein tiefes Einatmen ermöglicht. Hierbei werden die Arme auf die Beine aufgestützt und tragen so das Gewicht des Schultergürtels, von dem aus die Atemhilfsmuskeln (u.a. der Musculus pectoralis major) den Brustkorb aufdehnen können und so zur ansonsten wesentlich vom Zwerchfell geleisteten Atemarbeit beitragen.« https://de.wikipedia.org/wiki/Kutschersitz
Zudem wird eine Entlastung des lumbosakralen Wirbelsäulenbereichs erreicht. Diese Sitzhaltung bringt also Erleichterung bei Atemnot.
Das Schwache besiegt das Starke
Alle Atemgymnastik sollte die Kutscherhaltung zur Grundlage der körperlichen Aktivitäten nehmen und auf ›Brust-raus-Bauch-rein-Haltungen‹ verzichten. Denn diese Haltung, die der organischen Schwäche des Organismus beim Atmen zu Hilfe kommt, ist in Wirklichkeit eine starke Haltung: in ihr kann der Atem nicht nur beruhigt, sondern auch grundlegend gestärkt werden als Quelle von Innere Kraft und Gesundheit.
Qigong und Taiji machen vor, wie das geht – jedenfalls das Taiji in seiner ursprünglichen Form, wie sie von alten Meistern beschrieben wird. Gibt man der Versuchung nach, dem Idealbild der westlichen Aufrichtung zu folgen, wird die schwache Position durch eine scheinbare und äußerliche Stärke verwässert und es kann keine wahre, innere Stärke entstehen. Der Trick ist eine gegenläufige Bewegung: man richtet sich auf, zieht aber gleichzeitig die Schulterblätter nicht zusammen, man wird in den Schultern breit, hebt aber nicht das Brustbein an. So richtet man sich gleichsam im Kutschersitz auf und kann weiterhin frei atmen.
»Die Brust zurückzuhalten und den Rücken heben«
Yang Chengfu (1883–1936), der vielleicht bekannteste Taiji-Meister des 20. Jh., schreibt:
»Den Rücken heben bedeutet: Das Qi schmiegt sich an den Rücken. Kann man die Brust zurückhalten, dann kann man von selbst den Rücken heben. Kann man den Rücken heben, dann kann man die Kraft aus dem Rückgrat abschießen. Wohin man sich auch wendet, es gibt keine Gegner.«
Die Rumpfhaltung, im Kutschersitz aus ›Schwäche‹ eingenommen, wird genau in die aufrechte Taiji- und Qigong- Haltung übertragen und schafft die Bedingungen dafür, dass die Atmung frei fließen und Innere Kraft entstehen kann. Durch Dehnung des Brustkorbs – auch des Rückens! – wird die Atemfläche vergrößert und die Aktivität des Zwerchfells angeregt. Hao Yue-Rue (1877–1935), Taiji-Meister des Wu/Hao-Stils, erklärt:
»Die Brust darf nicht herausgestreckt werden, sondern soll sich nach unten lösen. Die beiden Schultern gehen ein wenig nach vorn zusammen. Das wird ›die Brust zurückhalten‹ genannt.«
Das subtile Zusammenspiel von Bewegung und Atem kann hier nicht weiter beschrieben werden, wer aber mehr wissen möchte, sei auf mein Buch ›Das Qi verwurzeln‹ verwiesen.
So ausgeführt, bewahrheitet sich der Satz »aus der Not eine Tugend machen« in Qigong und Taiji auf beeindruckende Weise – tatsächlich kann das Schwache das Starke besiegen, wenn man den Mut zur Schwäche hat.