»Die Liebe lebt von ihrer Distanz zum Objekt,
obwohl es als Streben in aller Liebe liegt,
diese Distanz zu überwinden.«
Ferdinand Ebner, österreichischer Philosoph
(Dialogisches Denken, 1882–1931)
In der aktuellen Coronazeit ergeht an uns alle die Aufforderung, Körperkontakt zu vermeiden, also Distanz zu halten, damit wir uns nicht infizieren. Auf die Menschen, die diese Kontaktbeschränkungen aus Vergnügungssucht missachten, trifft die Feststellung, dass sie sich »zu Tode amüsieren« heute in makabrer Weise zu. Die Redewendung »Wir amüsieren uns zu Tode« war der Titel eines medienkritischen Buchs von Neil Postman aus dem Jahr 1985. Er machte das Fernsehen für den Verfall menschlicher Werte verantwortlich. Doch heute geht es nicht mehr nur um menschliche Werte, heute ist das Leben selbst tatsächlich durch die Vergnügungssucht in Gefahr.
Kontakt und Distanz
Bei einem Körperkontakt geht es aber um mehr als bloßes Vergnügen. Die aktive oder passive Berührung des eigenen oder fremden Körpers, von der sanften Berührung mit den Fingerspitzen über den Kontakt mit Lippen oder Händen bis zum Schlag mit der Faust, brauchen die Menschen, um zentrale Körperfunktionen wie Wärmehaushalt, Immun- und Herz-/Kreislaufsystem zu regulieren. Das zeigen neuere Studien (https://de.wikipedia.org/wiki/K%C3%Körperkontakt).
Wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum wir so schwer auf Körperkontakt verzichten können. Die Lust an der Berührung äußert sich nicht nur auf Partys oder in sexuellem Vergnügen, sondern genauso in der körperlichen Nähe, die einem kranken oder sterbenden Menschen Mut und Trost spendet. Wir kennen alle selbst die Befriedigung, die uns die Empfindung einer Berührung schenkt.
Die erzwungene Distanz heute könnte dazu führen, dass später, in normaleren Zeiten, eine größere Vorsicht bei Körperkontakt entsteht. Das ist nicht generell schlecht, sondern kann auch ein Zeichen für eine respektvollere Haltung sein, die man dem Anderen gegenüber einnimmt. Respekt wahrt den Abstand und schafft trotzdem Nähe.
Taiji-Partnerübungen
Auch die Partnerübungen im Taiji suchen nach dem richtigen Verhältnis von Nähe und Distanz.
Die Grundform heißt – auch im Deutschen – ›Push hands‹. Die Bezeichnung übersetzt wörtlich den chinesischen Ausdruck Tuishou推手,der so viel bedeutet wie »Schiebende Hände«.
Zwei Partner stehen sich gegenüber, halten einen oder beide Arme in ständigem, leichtem Kontakt, und vollziehen einen vor- und zurückrollenden Bewegungsablauf, bei dem es darum geht, den Partner aus dem Gleichgewicht zu bringen und dabei das eigene nicht zu verlieren. Jeder soll also nur so weit vorgehen oder zurückweichen, dass die eigene Position nicht gefährdet ist. Die vorwärtsgehende Yang-Bewegung des einen Partners wird von einer zurückweichenden Yin-Bewegung des anderen Partners aufgenommen und zurückgeführt, sodass Vordringen und Zurückweichen zusammen ein Ganzes ergeben. Beide Kräfte vereinen sich, wie es im Taiji-Symbol dargestellt ist. Der Yang-Bewegung soll dabei nicht mit derselben Kraft begegnet werden, also nicht mit einer weiteren Yang-Bewegung. Die Yin-Bewegung gibt nach und bleibt doch am Arm des Partners kleben. Dadurch läuft der Partner mit seiner vorwärtsstrebenden Kraft ins Leere und wird dazu verführt, sich aus seiner Mitte zu entfernen. Er wird entwurzelt und fällt nach vorne.
Umgekehrt wird der zurückweichende Partner, der Yin-Part, aus dem Gleichgewicht gebracht, wenn er zu sehr nachgibt oder wenn er beim Zurückweichen nicht ›rund‹ genug war und Widerstand geleistet hat.
Über den Erfolg entscheidet nicht die Muskelkraft, sondern die Wachheit und Sensibilität. Im besten Fall kann keiner den anderen zu Fall bringen, weil beide in ihrer Mitte bleiben.
Push Hands als Modell sozialer Interaktion
Die Partnerübungen des Taiji verkörpern ein Abbild chinesischer Weisheit, konkret: ein ›Wertschätzungs-Modell‹ für menschliches Interagieren. Die Verwurzelung, also die Verbindung von Erde und Himmel, die Wahrnehmung des Gegenübers als Ergänzung meiner selbst, die Schulung von Achtsamkeit und Körpersensibilität, das Einüben von Nachgeben und Angreifen – all das verwirklicht sich in einer Einheit von Kontakt und Distanz, bei der sich beide Partner ernstnehmen. Entscheidend ist, den Kontakt mit dem Anderen zu halten und seinen eigenen Raum zu bewahren. Ein solcher distanzierter Kontakt wird erreicht durch den Einsatz der Arme und Hände, als ob sie zusammen mit dem Körper ein großes Rad bilden würden, und zwar ein stabiles Rad, das gleichermaßen fest und elastisch ist.
Genauso sind die Berührungen zugleich fest und elastisch. Berührungen, die nur weich sind, verlieren den eigenen Raum und die Distanz zum Gegenüber. Von solchen Bewegungen, die leider von vielen Taiji-Übenden praktiziert werden, werden die Körper schlaff und verlieren ihr Zentrum. Sie schmiegen sich liebevoll an den Körper des Partners an und verschmelzen geradezu mit ihm. Sie können sich selbst nicht behaupten, weil sie sich nicht abgrenzen.
Umgekehrt missverstehen andere Taiji als Kampfsport und wollen nur mit harten Bewegungen üben. Sie versuchen, den Anderen fernzuhalten oder umzuwerfen, es überwiegt Abwehr und Aggressivität. So kann kein Ganzes mit dem Partner entstehen, bei dem beide wechselseitig die Yin- und die Yang-Kraft zu verwenden lernen.
Die Mitte zwischen beiden Extremen ist nicht einfach zu finden. Entscheidend ist, dass man ein Gefühl für die richtige Spannung in den Armen findet. Sie müssen gerade so weich sein, dass die Gelenke, vor allem im Ellbogen, beweglich bleiben. Ist er zu schlaff, erschlafft auch der Rumpf und mit ihm die Atmung. Ist er zu hart, geht keine Innere Energie durch ihn hindurch und der Atem wird blockiert.
Partnerübungen im Taiji sind ein Lernprozess für beide Beteiligten: man erfährt genauso viel über sich selbst wie über den anderen. Kein aggressives »du sollst« oder »du sollst nicht« bewirkt die Entwurzelung, wenn die Übung richtig ausgeführt wird. Der Partner verliert von selbst seine Mitte, durch Übereifer, durch fehlenden Widerstand oder durch Unachtsamkeit. Der richtige Gebrauch der Inneren Kraft sorgt nur dafür, dass man Kontakt hält und zugleich die Distanz bewahrt. So behauptet man seinen ›safe space‹.
Taiji lehrt: Kontakt und Distanz gehen nur zusammen – das Motto ›Kontakt oder Distanz‹ führt nicht zum Ziel.