Die christlich-jüdische Religion fördert den Glauben an eine natürliche, von Gott legitimierte Überlegenheit des Menschen über die Natur. Der Mensch soll die Erde untertan machen und Herr über sie werden.
Doch was soll das eigentlich heißen, dieses »untertan machen«? Im hebräischen Original klingt das gar nicht so herrisch und herrschaftlich wie in unserer geläufigen Bibelübersetzung. Das Verb kabasch, das dort steht, meint eigentlich die Bestellung eines Brachlandes, das Fruchtbar-Machen des Unfruchtbaren. In unserer Bibelübersetzung zeigt sich dagegen unsere westliche Ideologie und unser Zeitgeist. Der Westen glaubt nämlich erst seit einigen Jahrhunderten, er müsse Herr über die Natur werden und sie unterwerfen wie ein Eroberer
Diese Geisteshaltung entwickelte sich in der europäischen Neuzeit (Beginn etwa ab 1500). Die Natur wird seit dem französischen Philosophen René Descartes als eine Welt der Objekte begriffen. Die Menschen machen sich diese Welt der Objekte untertan und gebrauchen sie zu ihren eigenen Zwecken. Als geistige Wesen sind die Menschen »Herrscher und Besitzer der Natur«, die nach der Vorstellung Descartes’ völlig geistlos ist. Ein Wesen mit Verstand kann und soll über die Natur verfügen wie über einen toten Stein oder ein Werkzeug.
Körper, mein Untertan
Eine solche Idee wirkt natürlich auch auf das Verhältnis des Menschen zu sich selbst zurück. Auch der eigene Körper ist schließlich ein Teil dieser Natur und soll dementsprechend wie ein willenloses Objekt dem Menschen dienlich sein. Menschen im Westen betrachten in diesem Sinn ihren Körper als ihren Untertan, der ihnen zu Diensten sein muss. Allerdings haben wir nicht nur einen Körper, wie wir ein Objekt haben – wir sind auch ein Körper, besser: ein Leib. Dieser Leib hat ein eigenes organisches Leben, das grundsätzlich ohne unser Wollen existiert.
Die Menschen im Westen ignorieren im Allgemeinen dieses Körper-Sein und halten den Körper nur dann für wertvoll, wenn er als Habe und Besitz gut funktioniert und stets zu Diensten ist. Den leistungsstarken Körper, den man beherrschen kann, zeigt man stolz in der Gesellschaft vor, aber die Achtung für den unbeherrschbaren Körper, der man ist, lebt nur im Privaten weiter: im Schlaf, Wellness und natürlich im Sex. Und – negativ – in der Krankheit, wo wir das Eigenleben des Körpers, das sich der Willkür des Ichs entzieht, schmerzlich erfahren.
Machet Euch den Atem (nicht) untertan
Auch die Atmung gehört zu den autonomen Grundfunktionen des menschlichen Körpers, zu seinem Leib. Die Steuerung erfolgt im Atemzentrum, das im Hirnstamm (medulla oblongata) lokalisiert ist. Wie von selbst versorgt jeder Atemzug Muskeln, Organe und jede einzelne Zelle mit frischem Sauerstoff. In Zuständen reduzierter Bewusstheit, also im Schlaf oder in der Ohnmacht oder im bewusst-losen Alltag, geht der Atem ohne unser Zutun weiter. Da sind wir ein Körper: wir werden gelebt, ohne dass wir den Organismus kontrollieren oder beeinflussen können oder wollen.
Aber: die Atmung ist auch die einzige automatisch gesteuerte Grundfunktion, die wir zumindest zeitweise willentlich beeinflussen können. Die Organe, die zum Atmen da sind, kann man trainieren und optimieren, mit ›Techniken‹ und ›Methoden‹.
Wenn wir dem Atem mit Übungen auf die Sprünge helfen und anregen möchten, dann greifen wir mit diesen Mitteln in den natürlichen, unwillkürlichen Atemfluss ein. Wir werfen die ›Atem-Maschine‹ an und wechseln vom Modus des Körper-Seins in den Modus des Körper-Habens.
In der westlichen Idee von Sport dienen solche Atemübungen lediglich dem Ziel, eine bestimmte Leistung zu erreichen. Dieses Ziel gibt der Geist vor und der Körper soll sich diesem Ziel unterwerfen. Er soll für dieses Ziel funktionieren wie eine Maschine. Hinter dieser Idee steckt der Dualismus von Geist und Körper, wie er von René Descartes begründet wurde. Der Geist herrscht über den Körper und ignoriert dessen Bedürfnisse als eigener Leib.
Spürbewusstsein
Die Bewegungen im Taiji und Qigong werden zwar auch ›technisch‹ erlernt, aber ›für sich‹, das heißt, sie streben kein äußeres Ziel an. Von Anfang an dienen die Übungen nicht dazu, eine Herrschaft über den Körper zu erlangen und ihn zu höheren Leistungen verfügbar zu machen. Das eigentliche Ziel ist, das Wohlbefinden des Organismus im Ganzen zu stärken. Der Körper soll in seinem Körper-Sein zu sich selbst kommen, und ihn zu ›haben‹, also Bewegungen einzuüben, ist der Weg dahin.
Ob es allerdings gelingt, mit Atemtechniken und Atemmethoden die Modi von Körper-Haben und Körper-Sein miteinander zu verschränken, sei dahingestellt. Leider zeigt die Anschauung der üblichen Praxis von Taiji und Qigong, dass der Körper doch wie ein Objekt behandelt wird; die Prägung durch den Leib-Seele-Dualismus zu überwinden, ist nicht leicht.
In der Taiji Akademie scheint aber gerade dies in letzter Zeit zu gelingen. Ausgang ist das Körper-Sein: wir bewegen uns so, dass der Atem fließt, wie es im ruhigen Schlaf geschieht. Diesen Atemrhythmus nehmen wir wahr und stören ihn bei all unseren Bewegungen nicht in seiner organischen Eigenbewegung. Wir entwickeln zunächst ein Spürbewusstsein des Geistes für den Atem, greifen aber nicht ein. Jetzt kommt das Körper-Haben ins Spiel: Unser Geist greift ein, aber ohne den organischen Ablauf zu stören. Er führt die Bewegungen, wodurch sich Atemrhythmus und -tiefe auf eine natürliche Weise verstärken. Unser Tun unterstützt die natürliche Wachstumstendenz der Atmung und erweitert ihr Potenzial, treibt aber keine ›Atem-Maschine‹ an. Wir gewinnen Innere Kraft und werden ausgeglichen und heiter, weil wir die beiden Modi unserer Existenz, Sein und Tun, vereinen können. Wir entwickeln unsere Natur, so wie es vielleicht das biblische Verb kabasch meint: die Bestellung eines Brachlandes, zu dem unser Leib verkommt, wenn wir ihn nicht achten, sondern nur als Körper nutzen und ausbeuten.
Diese Erfahrung verändert auch unser Denken und Handeln. Sie lässt uns nicht nur misstrauisch werden gegenüber allen Versuchen, die Natur oder den Körper dem menschlichen Geist zu unterwerfen, sondern bewirkt auch ein tiefes Misstrauen gegen alle Formen des Machtmissbrauchs und der Untertänigkeit, die unser Leben leider noch immer bestimmen.