Die Finger sind das zweite Gehirn

01. Oktober 2021 | Frieder Anders | Die Finger sind das zweite Gehirn

Abb. 1:  Homunculus-Puppe (nach W. Penfield)

Wolfgang Höhn, mein erster Taiji-Lehrer von 1973, hat ein interessantes Buch von Yoshiya Hasegawa vom Japanischen ins Deutsche übersetzt. Es trägt den Titel ›Daumen-Yoga für das Gehirn‹ (Goldmann 2019). Der japanische Arzt hat sich auf kognitive Beeinträchtigungen spezialisiert und zeigt in diesem Buch, wie wichtig der Daumen für das Gehirn ist. Einfache Bewegungsübungen für Daumen und Finger helfen dabei, das Gehirn besser zu durchbluten und Alzheimer und Demenz entgegenzuwirken. Wenn schon die Finger das Gehirn beeinflussen – wie wichtig muss da erst die richtige Handhaltung im Taiji sein!

Welke Blätter

In meinen ersten fünf Jahren Taiji-Unterricht lernte ich ein ›entspanntes‹ Taiji, also eine ›Bewegungsmeditation‹, die versuchte, jegliche Anstrengung des Körpers zu vermeiden. Die Arme und Hände sollten sich total entspannt und ohne Muskelanspannung bewegen. Die Hände hingen wie tote Blätter, aus denen jegliches Eigenleben gewichen war, aus den schlaffen Ästen meiner Arme. Sie baumelten an den Handgelenken, ohne Eigenspannung, in die Richtung, in die sich die Arme bewegten. Mein Taiji sah aus wie ein Hund, der sich aufrichtet und dabei seine Pfötchen hängen lässt.

Leider ist das heute noch immer eine weit verbreitete Armhaltung im Taiji und Qigong – leider, weil so Gehirn und Atem nicht angeregt werden. Dann lieber zur Entspannung aufs Sofa legen, bemerkte mein langjähriger Lehrer Meister Chu dazu. Solche Hände sind einfach nur schlaff und formlos und sind für Taiji ungeeignet.

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Abb. 2: Die falsche Handhaltung: schlaff und kraftlos.

Und jetzt bitte ganz stark sein?

Aber es gibt auch das Gegenteil zu diesen Hundepfötchen. In anderen Taiji-Stilen werden die Finger gerade gestreckt und fast schon verkrampft auseinandergespreizt. Eine solche Über-Anspannung soll wohl den Kampfkunst-Aspekt von Taiji hervorheben. Doch auch eine solch angespannte Haltung ist keine Hilfe für den Atem – sie blockiert den Energiefluss und lässt auch den Geist verkrampfen.

 

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Abb. 3: Die zweite Fehlhaltung: verkrampft und gespreizt.

Homunculus-Hand

Dass solche Handhaltungen keine Nebensächlichkeiten sind, zeigt die neuere Hirnforschung. In dem Buch von Hasegawa ist das sogenannte ›Homunculus-Diagramm‹ des kanadischen Neurochirurgen W. Penfield (1891–1976) abgebildet, das zeigt, wie viel Gehirnkapazität die einzelnen Sinnesorgane und Körperteile für sich beanspruchen. Je mehr Gehirnkapazität für ein Körperteil verwendet wird, desto größer wird es in diesem Homonculus gezeichnet.

https://www.uni-weimar.de/en/media/chairs/media-studies/theorie-medialer-welten/forschung/digital-homunculus/

Für die Bewegung der Finger und des Daumens sind allein zwei Drittel des motorischen Cortex und ein Viertel des somatosensorischen Cortex zuständig – also zwei Drittel des Bereichs im Gehirn, der für Bewegung zuständig ist, und ein Viertel des Bereichs, der für die Wahrnehmung zuständig, wird allein von den Fingern beansprucht. Der Homunculus hat dementsprechend riesige Hände, die größer sind als der Rest des Körpers. Daran sieht man: die richtige Handhaltung macht sehr viel mit dem Körper, mindestens mit dem Gehirn.

Atem

Der Homunculus (vgl. Abb. 1) hat auch dicke Lippen, eine fleischige Zunge und keine kleine Nase. Diese Organe sind für den Atem zuständig, dem anderen wichtigen Thema bei Taiji und Qigong.

Dazu kommt: Eine richtige Handhaltung kann auch unsere Atmung und unseren Geist tief beeinflussen: Der Daumen ist das Endstück einer der vier so genannten ›Armlinien‹. Die Faszienforschung versteht darunter Verbindungslinien von Muskeln und Faszien, die über die Arme und den Rücken verlaufen. Eine davon ist die ›Daumenlinie‹, die den Daumen mit der vierten Rippe verbindet. Der Daumen beeinflusst über diese Faszienlinie in seinen Bewegungen direkt den Brustkorb. Wenn ich ihn bewege, wirke ich auf meine Atmung ein.

Auch die chinesische Medizin scheint diesen Zusammenhang gekannt zu haben, denn der äußere Lungenmeridian verläuft etwa auf der gleichen Linie. Der Daumen wirkt wie ein Schalter, mit dem ich die Lunge aktiviere.

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Abb. 4. Der Verlauf von Lungenmeridian und der Daumenlinie der Faszien.

Aus der Erkenntnis dieser Zusammenhänge ist mein LebenstorQigong® entstanden, das ich in meinem Buch ›Das Qi verwurzeln‹ (Kristkeitz 2020) dargestellt habe. Rückwirkend haben diese Erkenntnisse auch Einfluss auf die Taiji-Form, die ich seit über vierzig Jahre praktiziere und lehre: viele Bewegungen, die vorher nicht so deutlich waren, werden nun viel klarer, mit einer erstaunlichen Systematik, bei der der Daumen eine wesentliche Rolle spielt.

Taiji- und Qigong-Hände

Die Hand im Taiji und Qigong muss wie ein offenes Tigermaul sein: Daumen und Zeigefinger gehen auseinander, als wolle man mit einer offenen Hand etwas greifen. Die Finger bleiben dabei locker und werden nicht starr gestreckt und abgespreizt. Im Gegenteil: Die Finger runden sich leicht und die Spannung entsteht allein durch die hohle Hand, die nach der Leere greift. Zwischen Daumen, Zeigefinger und kleinem Finger entsteht ein fast gleichseitiges Dreieick und zwischen Daumen und Zeigefinger verläuft eine gerade Hautfalte, die durch die lockere Spannung zwischen Daumen und Zeigefinger entsteht. Die linke Hand vom Homunculus auf Abb. 1 ist eine perfekte Taiji-Hand.

Wenn beide Hände ein solches Tigermaul formen, lassen sie sich immer zu einer bestimmten Mudra zusammenfügen, die gezielt das Qi anregt und dem Atem reguliert. Dabei unterscheidet sich die energetische Regulierung über die Handhaltung je nach Atemtyp: Der Einatmer hält eine Mudra mit geknickten Handgelenken in seiner Yin-Phase, um seine Einatmung zu unterstützen; der Ausatmer hat die gleiche Handhaltung in seiner Yang-Phase (vgl. Abb. 4). Umgekehrt unterstützt eine Mudra mit gestreckten Handgelenken die Ausatmung der Einatmer in der Yang-Phase und die Einatmung der Ausatmer in der Yin-Phase (vgl. Abb. 5).

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Abb. 4: Die Yin-Stellung der Einatmer ist die Yang-Stellung der Ausatmer

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Abb. 5: Die Yang-Stellung der Einatmer ist die Yin-Stellung der Ausatmer

Das Tigermaul und die Mudra bilden den Abschluss der Körperspannung, die entsteht, wenn alle Faszienlinien im Körper zusammen ›aufgespannt‹ werden. Eine solche tonische Spannung zieht sich durch den ganzen Körper und ist weder schlaff noch eine verkrampfe Muskelanspannung. Pfötchen und Spreizhände sind äußeres Taiji, Mudra und Tigermaul dagegen ein Zeichen für Innere Kraft.