2006 begann ich mit der Erforschung des individuellen Atemtyps und seiner Bedeutung für Taiji und Qigong. Dieses Thema spielte bei Meister Chu, meinem Lehrer von 1979 bis 2005, keine Rolle und spielt es bis heute nicht, weil es in der chinesischen Taiji-Tradition auch keine Rolle spielt. Er unterrichtete nur nach seinem eigenen Atemtyp, und so konnte ich zwar viel bei ihm lernen, weil wir beide Einatmer sind, aber irgendwann wurde mir das zu einseitig und ich trennte mich von ihm.
Ich kannte die Atemtypen aus meiner Gesangsausbildung und versuchte ab 2006, auch meinen Gegentyp zu verstehen. Mir war klar, dass es diesen Unterschied auch im Taiji geben musste. Der Unterschied bedeutet ja nichts anderes, als dass die Einatmer eine andere Phase ihres Atmens betonen müssen als die Ausatmer, um Innere Kraft zu entwickeln. Am Anfang war da viel Trial-and-Error. Ich war auf das Feedback der Ausatmer-Schüler angewiesen, um meine Vorstellungen zu verifizieren. Ich konnte die Bewegungen und die Atmung der Ausatmer zwar ausführen, hatte aber kein Erfolgskriterium. Die Ausatmer sollten achtsam sein, in sich spüren und mir eine Rückmeldung geben, ob es sich richtig anfühlte.
Damals verstand ich die biomechanischen Grundlagen noch nicht; heute, nach über zehn Jahren weiterer Forschung und Erfahrung, ist das anders geworden. Mittlerweile weiß ich: Die ›Achtsamkeit‹ allein hilft im Taiji nicht weiter. Ein Geist, der die Bewegungen nur achtsam begleitet, ist noch kein Geist, der die Bewegung führt.
Darauf aber kommt es an. Erst wenn der Geist auf ein Ziel ausgerichtet ist, stellt sich die Biomechanik richtig ein. Man verbindet die atemtypspezifische Körperhaltung und die jeweils zugehörige Form des Atmens mit dem einem Vorgefühl oder einem zielenden Geist – dann erst verändern sich die Bewegungen so, dass Innere Kraft entsteht. Ein Geist, der führt, spürt nicht achtsam nach innen, er spürt achtsam nach außen.
Yi -Qi- Jin: Der Geist führt, Qi und Körper folgen,
und es entsteht die Innere Kraft
Die Achtsamkeit war schon immer ein Merkmal von Taiji und Qigong, das die Menschen angezogen hat. Wer sich nicht den Zielen der westlichen Art des Sports unterwerfen wollte, wer also nicht immer nur höher schneller und weiter wollte, der fand in der Achtsamkeit des Qigong und Taiji das ›ganz Andere‹, das Ziellose als Gegensatz zur Selbstoptimierung. Allerdings muss man aufpassen, dass man hier nicht das Kind mit dem Bade ausschüttet: Ziele gibt es sehr wohl in beiden Disziplinen.
Ein Ziel auf dem Weg zur Inneren Kraft ist das Wahrnehmen und Spüren unserer Leiblichkeit. Ohne ein solches Gespür für unsere Leiblichkeit werden wir nie eine Haltung entwickeln, die Erde und Himmel verbindet. Die Achtsamkeit ist ein notwendiger Schritt, um unseren Körper zu verändern, Aber darin erschöpft sich nicht die Aufgabe. Wenn wir im Geist eine Achtsamkeit für die Bewegung entwickelt haben, muss der Geist noch lernen, die Führung über die Bewegung zu übernehmen und ihr vorzugreifen. Beides darf man nicht in einen Topf werfen.
Körper und Leib
Achtsamkeit, wie erwähnt, bezieht sich auf den Leib, der man ist, anstatt den Körper wie ein fremdes Etwas zu traktieren. Man ›achtet‹ darauf, seine organische Existenz nicht zu vernachlässigen, wenn die geistige Führung als Wille in den Leib eingreift. Das ist der Umschlagpunkt, in welchem der Leib zum Körper wird, zu einem wirkenden Ding in der Welt. Körperhaben und Körpersein sind untrennbar verbunden. Die Aufgabe ist es, beide Modi zu versöhnen.
Mein Leib atmet von selbst. »Es atmet mich« – sei es im Schlaf oder in der stillen Mediation. In der Meditation ist die achtsame Begleitungen dessen, was sich da in meinem Leib tut, auch ein ausreichendes Ziel der Übung. Sobald mein Bewusstsein aber in den Atem eingreift, um ihn zu steuern oder zu beherrschen, wird mein Leib zum Körper, den ich als Instrument einsetzen und fordern kann. Er dient mir nun als eine Maschine, um Arbeit zu verrichten. Im Taiji und Qigong benutzen wir beide Modi, den Leistungsatem und den natürlichen Atem, das willentliche Atmen, das sich steuern lässt, und das unwillkürliche Atmen, dem man nur Achtsamkeit entgegenbringen kann. Wie kann ich nun beide Modi verbinden, ohne in achtsamer Ehrfurcht zu erstarren oder nur bloß mit dem Maschinenblick meine Aktivitäten zu bestimmen?
In der Einheit von Achtsamkeit und Führung: erspüren, was da ist, was sich organisch regt, und das durch passende Bewegungen beleben und in bewusste Übungen zu überführen. Das stärkt die Vitalität und die Einheit von Körper und Leib. Und das ist das Ziel unserer Arbeit.